Müde Augen im Sommerhaus, sehen nichts als Gespenster

 

Judith Hermann und ihre Bücher

 

 

von Mona El-Khansa

"Stein schnickte seine Zigarette in den Schnee, sah mich nicht an, sagte: "Was soll ich dir denn sagen.
Das hier ist eine Möglichkeit, eine von vielen. Du kannst sie wahrnehmen, oder du kannst es bleiben lassen. Ich kann sie wahrnehmen, oder abbrechen und woanders hingehen. Wir können sie zusammen wahrnehmen oder so tun, als hätten wir uns nie gekannt. Spielt keine Rolle. Ich wollt´s dir nur zeigen, das ist alles." ( „Sommerhaus, später“ )
Stein hatte einen Traum: Ein Haus irgendwo außerhalb der Stadt, weg vom ausgestorbenen Riesentier, wie er Berlin nannte, wo er mit seinen Freunden die Sommer verbringen könne. Träume können Möglichkeiten werden und davon gibt es viele. Du kannst sie wahrnehmen oder es bleiben lassen.
Spricht hier das Lebensgefühl der neuen Generation? Die Einstellung, die dem Luxus entspringt, zu viele Möglichkeiten zu besitzen oder das Verhängnis sich in ihrer Fülle zu verlieren?
Stein gehört, wie die meisten Protagonisten in den Geschichten Judith Hermanns zu den jungen Menschen dieser Zeit, die im Riesentier Berlin oder auf der Flucht vor demselben versuchen, ihr Leben zu gestalten und sich dabei meist selbst im Wege stehen.
" Sommerhaus, später" heißt das im September 1998 erschienene, hochgelobte Erstlingswerk der Frau Hermann, die als freie Journalistin und Autorin in Berlin, Prenzlauer Berg lebt. Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt, feierte ihr Debüt einen großen Erfolg. Nichts wurde gespannter erwartet, wie die nächste Veröffentlichung der 33jährigen. Diese erschien allerdings, dem vorangegangenen Trubel scheinbar zum Trotz, erst vier Jahre später. "Nichts als Gespenster" ist der Titel, der uns seid dem Frühjahr 2003 von den Bestseller-Regalen aus anstrahlt und hinter dem sich wiederum Kurzgeschichten verbergen.
Mit "Sommerhaus, später und "Nichts als Gespenster" ist Judith Hermann etwas gelungen, das vielen Schriftstellern ihrer Generation versagt geblieben ist. Inmitten der aufgekommenen Modeerscheinung der "Pop- Literatur", die über den Charakter der schnelllebigen, vergänglichen Gefälligkeiten nicht hinaus kommt, inmitten der Hektik der lauten überrollenden Massen der Spaßgesellschaft in einer Metropole wie Berlin, traut sie sich stehen zu bleiben und ihren Blick zu fokussieren. Im verlangsamten, fast zeitlupenartigem Tempo, lässt sie Menschen einander begegnen, die scheinbar nichts verbindet, spielt mit Situationen und Möglichkeiten, die im Leben entstehen und ausgelöst werden können, manchmal nur durch einen Blick, einen Gedanken oder ein einziges Wort, das Fremde aneinander binden kann und Vertraute unendlich voneinander entfernen. Wie durch eine heranfahrende Kamera, blickt sie in Autos, Cafes, Bars und auf Plätze, um den Menschen aus verschiedenen Erzählperspektiven näher zukommen.
Sie sieht hinter die Tür einer Mietswohnung in Mitte, in der zwei auf befremdliche Art Vertraute, Orgelkonzerte von Bach hören, sie blickt durch das Fenster des Cafes am Helmholtplatz, in dem Sophie an einem regnerischen Tag, sich an ihre Kaffeetasse klammernd, von den blauen Augen ihrer alkoholkranken Großmutter erzählt, die lichterloh brennend, tanzend in ihrer Wohnung gefunden wurde und sie lässt ihren Blick durch Steins Sommerhaus, durch seinen Entwurf von einem Leben schweifen, der allerdings auch nur eine Möglichkeit von vielen bleibt.
Hermanns Personen sind nicht zum Erfolg bestimmt. Anstatt ihr Leben pragmatisch in die Hand zunehmen, verbringen sie die meiste Zeit damit, sich vorzustellen, wie man leben könnte, und während sie das tun, führen sie wahrscheinlich mit abgeklärter Geste, eine Zigarette zum Mund, lassen mit dem Rauch einen Hauch von Verlassenheit und Melancholie entgleiten und blicken traumtaumelnd und doch etwas unterkühlt an ihrem Gegenüber vorbei. Immer ein wenig ratlos, immer ein wenig abwesend, agieren sie in ihrem Leben und reden davon, als wäre es der Traum eines anderen.
Ein Blick auf die Figuren ist, als schaue man auf Fotos früherer Zeiten, Abbilder auf denen Gesichter, wie Gespenster durch den Schleier der Vergangenheit ins Hier und Jetzt blicken, entrückt und uns doch auf seltsam zeitlose Art berührend. Das gleiche Gefühl hat man auch beim Anblick der Autorin selbst, auf dem Bild, das auf dem Einband der im S.Fischer Verlag erschienenden Ausgabe von "Sommerhaus, später" zu sehen ist. Der etwas müde Blick ist wie eine Verbindung aus durchdringender Nähe und zurückhaltender Distanz, und auch in ihren Geschichten halten sich diese beiden Extreme immer die Waage. Analytisch durchleuchtet sie ihre Charakteren, von denen sie selbst sagt, sie seien von Personen aus ihrem unmittelbaren Umfeld inspiriert. Sie untersucht ihre Herkunft und Hintergründe, beschreibt detailliebend ihre Bewegungen, ihre Gewohnheiten und Macken, ohne den Personen wirklich zu nahe zutreten. Durch ihre Erzähltechnik, die durch auffallend kurze, einfache Sätze besticht und die von einer kühlen, fast lähmenden Wortkarkheit zwischen den Figuren geprägt ist, als wären diese zu müde, um zu sprechen, errichtet sie eine Art respektvolle Distanz zu dem Geschehen. Bevor sie an das Innerste geht, verweilt sie lieber in der Unbestimmtheit der Stimmung die es umgibt, denn Gefühle sind meist zu unkonkret um sie in Worte des Alltäglichen zu fassen.
" Der Winter erinnert mich manchmal an etwas. An eine Stimmung, die ich einmal hatte, an eine Lust, die ich empfand? Ich weiß es nicht genau. Es ist kalt. Es riecht nach Rauch. Nach Schnee. Ich drehe mich um und lausche auf etwas, das ich nicht hören kann, ein Wort liegt mir auf der Zunge, ich kann es nicht sagen. Eine Unruhe, weißt du? Du weißt. Aber du würdest sagen, alles was namenlos ist, soll man nicht benennen." ( „Bali-Frau“ )
Beschreibungen von Gefühlen, werden zu Fragen, die keiner beantworten kann, zu Rätseln, die nicht gelöst werden wollen. Frau Hermann weiß, dass es kein Wissen gibt, sondern nur Ahnungen.
Trotz aller Intimität, die zwischen Leser und Fiktion möglich ist, bei der Hermann bleiben beide am Ende einander fremd und mit einer Frage auf den Lippen zurück, wie so oft bei Begegnungen mit Menschen oder mit Situationen, die das Leben oder eine Winternacht in Berlin bietet.
Judith Hermann zeigt uns Möglichkeiten, die in einem Leben, oder zwischen Menschen entstehen können, ob sie wahrgenommen werden und was aus ihnen wird, spielt dabei keine Rolle, sie will es uns nur zeigen, das ist alles.

Judith Hermann, 1970 in Berlin geboren, lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin, Prenzlauer Berg. Erhielt unter anderem den Heinrich von Kleist- und den Hugo Ball Förderpreis

"Sommerhaus, später": S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998
188 Seiten, T.B., 10,23 Euro, ISBN: 3596223946

"Nichts als Gespenster",S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003-05-12
319 Seiten, H.C., 17,90 Euro, ISBN: 310033180X