Die Unterschätzten
The Boston Strangler (Der Frauenmörder von Boston, USA 1968) ist endlich als DVD (20th Century Fox Grosse Film-Klassiker’) erschienen
Von Mike Beilfuss
Die Unterschätzten
The Boston Strangler (Der Frauenmörder von Boston, USA 1968) ist endlich als DVD (20th Century Fox Grosse Film-Klassiker’) erschienen
Von Mike Beilfuss
Es ist eine dieser Rollen, die einen Schauspieler zu einem Schauspieler machen. Für Tony Curtis war seine schwierigste Rolle auch gleichzeitig sein letzter wahrhaft großer Kinoauftritt. Lediglich eine Golden Globe-Nominierung gab es für ihn. Auch sonst erhielt der zur damaligen Zeit hoffnungslos unterschätzte Film keine Oscar-Nominierung. Heute gilt Der Frauenmörder von Boston zwar unter Insidern als ein verkanntes Meisterwerk, aber hat es dennoch immer noch nicht geschafft, sich stärker ins Bewusstsein der Zuschauer und der Fachpresse zu drängen. Zu unrecht! Die von Curtis verkörperte Figur Albert De Salvo ist der erste Serienkiller des modernen Amerikas, der von 1962 bis 1964 insgesamt 13 Frauen in Boston ermordet hat. Die damalige Presse schlachtete das Thema zur Gänze aus und verursachte einen Zustand der Hysterie in der Bostoner Stadtbevölkerung. Diesen Zustand der Panik und der Hysterie widerzuspiegeln, geht in Regisseur Richard Fleischers brillanten filmischen Konzept voll auf: Zeitgleich mit dem Erscheinen des ersten Serienmörders in den USA, gewinnt auch das Fernsehen an zunehmender Bedeutung als Massenmedium. Fleischer arbeitet bewusst mit der Optik der Fernsehbilder, um dem Film einen dokumentarischen Stil zu geben. Das gestalterisch auffälligste Merkmal ist jedoch die Verwendung des Splitscreen-Verfahrens, das in Der Frauenmörder von Boston zum ersten Mal in so rigoroser Form verwendet wird. Die Hektik, die Hysterie, der Zustand der Panik der Menschen findet seinen Widerhall in diesem Bild-in-Bild-Verfahren, das vor allem innerhalb der ersten Stunde des Films eingesetzt wird. Zeitweise befinden sich auf dem Bildschirm vier, fünf, sechs und mehr verschiedene Bilder, die in ihrer Wirkung den Zuschauer, vor allem vermutlich den der damaligen Zeit, zu verwirren vermögen. Der Film flimmert streckenweise förmlich an einem vorbei, kommt nicht zur Ruhe. So ahnungs- und hilflos wie die Menschen in Boston fühlt sich auch der Filmzuschauer. Was tun? Warum wird der Täter nicht gefasst? Die Bostoner Polizei, selbst in der gefassten Verkörperung Henry Fondas (über seine glanzvolle Schauspielleistung und seine Rolle könnte man auch noch einen eigenen Artikel schreiben), vermag es nicht dem Täter auf die Spur zu kommen.
Auf dem Höhepunkt des Mordens und der Suche nach dem Täter dann der radikale Bruch:
Eine vollkommen ruhige Kamera blendet in ein Wohnzimmer. Der Fernseher läuft es werden die Beerdigungsfeierlichkeiten John F. Kennedys übertragen. Ein Mann sitzt in seinem Sessel und schaut zu. Offensichtlich stark betroffen. Die Kamera fährt voran und schwenkt um die Ecke in die Küche, in der sich der Rest der Familie, Frau und zwei Kinder befinden. Die Tochter kommt zu ihrem Vater und fragt: Warum bist du so traurig, Papa? Der Vater antwortet den Tränen nahe: Ach, nichts. Er nimmt seine Tochter in den Arm.
Der Vater wird gespielt von Tony Curtis, die Hauptfigur ist eingeführt. Ein solcher Kunstgriff, der Übergang von den sich ständig wechselnden Bild-in-Bild-Montagen in die morbide Ruhe des Wohnzimmers mit der Trauerstimmung um John F. Kennedy ist einer der brillantesten Szenenwechsel der Filmgeschichte. Einhergehend mit diesem Übergang findet auch ein Perspektivwechsel in die Handlungsebene des Killers statt. Fortan wird der Film nicht mehr die Ermittlungen der Polizei verfolgen, sondern den Killer bei seinen Machenschaften bis er gefasst wird. Das Bild-in-Bild-Verfahren wird nicht aufgegeben. Die Ruhe ist nur scheinbar. Dadurch dass sich die Technik jetzt auf eine Person konzentriert, wird eine überraschend starke Nähe zum Mörder geschaffen, die beim Zuschauer ein gewisses Unbehagen auslösen dürfte.
Ein Beispiel. Rechter Bildrand: Eine Frau, das vermeintliche Opfer, bügelt ahnungslos. Linker Bildrand: Der Killer, Tony Curtis, versucht leise die Wohnungstür des ahnungslos bügelnden Opfers aufzubekommen. Die Kamera ist sehr dicht am Gesicht des Killers. Keine Musik liegt über dieser Szene. Die Spannung zieht sich allein aus dem Zustand der Ahnungslosigkeit des Opfers, den O-Tönen und der Vorstellung, was dieser doch eigentlich so nette Tony Curtis gleich mit dem Opfer anstellen wird.
Für die Rolle des Killers sollen übrigens auch Robert Redford, Horst Buchholz und Warren Beatty vorgesehen gewesen sein. Tony Curtis verschwand nach diesem Film nahezu von der Kinofläche. Als würde der Film die Bedeutung des Fernsehens für Tony Curtis vorweggenommen haben, landete der mit The Persuaders! (Die Zwei) zwar einen großen amerikanischen Serienerfolg, aber in relevanten Kinorollen tauchte er nie wieder auf. Da spielt Tony Curtis die Rolle seines Lebens und endet dann im Fernsehen. Für die Niederungen, die der aus der Bronx kommende Schauspieler in seiner Karriere durchschritten hat, aber sicherlich ein glückliches Ende. Für den Filmzuschauer ein trauriges, denn der hätte gerne noch mehr von Tony Curtis in so bestechender Form gesehen. Dazu braucht es aber auch so mutige und brillante Filmemacher wie Richard Fleischer, die sich trauen eine Figur so zu inszenieren. Richard Fleischer verstarb kaum beachtet im März 2006. Sein Vermächtnis gilt noch wirklich entdeckt zu werden. Es gibt Künstler, die werden hoffnungslos unterschätzt. Mit Tony Curtis und Richard Fleischer haben zwei für kurze Zeit zusammengefunden und eines der größten Meisterwerke der Filmgeschichte geschaffen.
Mike Beilfuß für SPIRIT EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de