Wahre Liebe in Zeiten des Krieges
Berlinale 2018: Marc Hairapetian über die Restaurierung von Michail Kalatosows Jahrhundertfilm Letjat schurawli (Wenn die Kraniche ziehen)
von Marc Hairapetian
Wahre Liebe in Zeiten des Krieges
Berlinale 2018: Marc Hairapetian über die Restaurierung von Michail Kalatosows Jahrhundertfilm Letjat schurawli (Wenn die Kraniche ziehen)
von Marc Hairapetian
Auch wenn die 68. Berlinale viele neue gute Filme (man denke nur an Wes Andersons mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichneten Eröffnungsfilm "Isle of Dogs") bot, überstrahlte doch einer sie alle: Letjat schurawli (Wenn die Kraniche ziehen, UdSSR 1957)! Das Meisterwerk vom georgischen Regisseur Michail Kalatosow (1903 - 1973) war nach Friedrich Ermlers Die große Wende (1946) erst der zweite sowjetische Film, der die Goldene Palme von Cannes gewann. Zudem erhielt der Liebling der internationalen Kritik den Grand prix technique für die herausragende Kameraarbeit von Sergei Urussewski (1908 - 1974) sowie eine lobende Erwähnung der Jury für die Hauptdarstellerin Tatjana Samoilowa (1934 - 2014), die als "russische Audrey Hepburn" gefeiert wurde!
Nun wurde das zur Zeit des Großen Vaterländischen Kriegs spielende Melodram, das auf dem bereits 1943 entstandenen Drama Die ewig Liebenden von Wiktor Rosow (1913 - 2004) basiert, von Mosfilm unter Studioleiter Karen Schachnasarow in 2K digital restauriert und der Weltöffentlichkeit präsentiert. Im ehemaligen DDR-Vorzeige-Lichtspielhaus International war das Publikum sichtlich ergriffen. So bezeichnete die mit 99 Jahren immer noch ungemein rüstige deutsche Produzentenlegende Artur Brauner die zum Großteil mit Handkamera gedrehte Produktion SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM gegenüber als den "menschlich ergreifendsten Film, den ich kenne".
Wenn es jemals ein Kinowerk gegeben hat, das die sogenannte "russische Seele" auf Zelluloid eingefangen hat, dann ist es Letjat schurawli! In der Liberalisierungsphase nach Stalins Tod entstanden, erzählt der atemberaubende und zugleich poetische Schwarzweißfilm in expressionistischen Bildern vom tragischen Schicksal des Liebespaars Boris (Alexei Batalow, 1928 - 2017) und Weronika (Tatjana Samoilowa). Während der junge Idealist sich freiwillig meldet, um gegen die Nazis zu kämpfen, verliert das von ihrem Freund zärtlich nur "Eichhörnchen" genannte Mädchen bei einem Bombenangriff ihre Eltern und wird von Boris´ Familie aufgenommen. Sein Bruder, der Pianist Mark (Alexander Schworin, 1931 - 1994), begehrt Weronika und vergewaltigt sie eines Nachts. Aus Angst ansonsten "entehrt" zu sein, willigt sie schließlich ein, ihn zu heiraten. Unterdessen fällt Boris an der Front, nachdem er einem Kameraden das Leben gerettet hat. Weronika erfährt aber nichts von seinem Tod und hält ihn weiter für vermisst...
Chefrestaurator Igor Bogdasarow hat aufgrund des 35-mm-Originalnegativs ganze Arbeit geleistet: Das immer noch erschütternde Zeugnis von wahrer Liebe in Zeiten des Krieges aus selbstkritisch-patriotischer Sicht lässt die "emotionale Kameraarbeit" von Sergei Urussewski für den Kinobesucher zu einer besonderen sinnlichen Erfahrung werden, wobei man ein "satteres" Schwarzweiß selten gesehen hat. Noch "entfesselter" war die Filmfotografie nur noch sieben Jahre später bei einer weiteren Kooperation von Kalatosow und Urussewski: der grandiosen Fake-Doku Soy Cuba (Ich bin Kuba)!
Letjat schurawli (Wenn die Kraniche ziehen, alternativer Titel: Die Kraniche ziehen), UdSSR 1957, Regie Michail Kalatosow, Drehbuch Wiktor Rosow, Kamera Sergei Urussewski, Musik Mossei Wainberg, Schnitt Marija Timofejewa, mit Tatjana Samoilowa, Alexei Batalow, Alexander Schworin, Wassili Merkurjew, Swetlana Charitonowa, Konstantin Nikitin u.a.
Marc Hairapetian am 24. Februar 2018 für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de / www.spirit-fanzine.com.