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"Jede Zeit hat ihre starke Filme"

Interview mit Schauspieler Moritz Bleibtreu, geboren am 13. Au-gust 1971 in München, über "Das kalte Herz" (Kinostart: 20. Oktober 2016), Märchen und Überfluss, seine Mutter Monica Bleibtreu (1944 - 2009) und das gemeinsame künstlerische Vorbild Oskar Werner (1922 - 1984)

Von Marc Hairapetian

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Größere Ansicht anzeigen Frederick Lau (links) und Moritz Bleibtreu in "Das kalte Herz" (Foto: Weltkino)

 Marc Hairapetian: "Das kalte Herz" ist für viele Generationen hierzulan-de zum Lieblingsmärchen geworden. Auch für dich?

 Moritz Bleibtreu: Die Hauff-Märchen waren mir ehrlich gesagt nie nah. Ich wusste nur, dass es da diesen berühmten DEFA-Film von "Das kalte Herz" gibt. Meine Mama hat mir nie Märchen vorgelesen, auch nicht die von Grimm. Wahrscheinlich, weil sie die zu krass fand. Und dem muss ich mich heute anschließen: Das sind zu großen Teilen Moralkeulen. Bei allem Respekt vor der Literatur: Die soziale Relevanz haben diese Mär-chen etwas verloren. Die meisten Märchen erzählen mit einem stark er-hobenen Zeigefinger. Ich finde das heute nicht mehr ganz so zeitgemäß und kindgerecht. Genau so wie man sich zum Glück von der Prügelstra-fe größtenteils verabschiedet hat. Damals wurde Kindern einfach auch viel Angst gemacht frei nach dem Motto: "Mach das nicht, sonst fallen Dir die Hände ab!" Das war vielleicht auch in den damaligen Zeiten sinn-voll, denn so ein Wald beispielsweise war gefährlich. Da hat man ge-sagt: "Geh ? da nicht rein, sonst kommt der Wolf und frisst Dich auf!" Aber da gibt es heute viel schönere Geschichten bei denen die Kinder keine Angst vorm Einschlafen bekommen: "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer". Alles von Michael Ende eigentlich. Oder "Krabat" von Otfried Preußler. Ich mag neuere Sachen wie "Der Grüffelo" von Julia Donaldsson. Ich lese meinem Sohn gerne vor, aber weniger Märchen.

 Hairapetian: Was war also dein Ansatz, um als Holländer-Michel in der Neuverfilmung von "Das Kalte Herz" mitzuwirken?

 Bleibtreu: Mein Bezug war erst mal Regisseur Johannes Naber. Ich kannte von ihm "Der Albaner" und "Zeit der Kannibalen". Johannes ist einer wenigen neueren Regisseure, wo ich sage: Der Typ ist richtig spannend. Und da war es klar, dass man das macht, wenn so ein An-gebot kommt.

 Hairapetian: Du hast den Holländer-Michel, auch was seinen Look be-trifft, sehr eigen interpretiert. Mit der Märchenvorlage von Hauff und der DEFA-Verfilmung hat er fast gar nichts mehr zu tun. Erwin Geschonnek spielte ihn im Wortsinn sehr groß. Er wuchs förmlich über sich hinaus...

 Bleibtreu: Und er hatte diese großen Hände! "Das kalte Herz" stammt aus einer archaischen Zeit. Da war eine physische Überlegenheit signifi-kant für eine finstere Figur wie Holländer-Michel. Eine Figur, die als Rat-tenfänger agiert, musste damals eine dominante und autoritäre Er-scheinung besitzen. Das ist aber heute nicht mehr so. Die größten Dreckschweine, die heute herumlaufen, brauchen keine Muskeln mehr. Es geht um etwas anders. Johannes hat ganz bewusst die Geschichte aus ihrem Urkontext herausgeholt. Wir bewegen uns in ihr jetzt in einer prä- oder sogar postapokalyptischen Welt. Keiner weiß genau, wann das spielt. Die Mittel mit denen der Holländer Michel vorgeht, haben nichts mit Einschüchterung zu tun, wie in der Vorlage. Die Mittel, die Naber für Michels Verführung des Köhlerjungen benutzt, sind viel psy-chologischer. Das finde ich auch richtig und der heutigen Zeit entspre-chend.

 Hairapetian: Ist das deine Idee gewesen, dass er so Morricone-artig pfeift, wenn er auftritt?

 Bleibtreu: Nein, das Pfeifen stand schon im Buch. Es war insgesamt ei-ne sehr kreative Zusammenarbeit. Da ging alles sehr, sehr gut zusam-men an den sieben Drehtagen, die ich dabei war.

 Hairapetian: Du lobst explizit den Regisseur. Was macht seine Arbeits-weise so besonders für dich?

 Bleibtreu: Er versucht, Bilder zu schaffen, die keinen Realitätsanspruch haben, sondern das sind, was sie sind: Groß, sehr visuell, aber trotz-dem inhaltlich im Umgang mit den Figuren und der Erzählstruktur reser-viert. Da ist das Bemühen, um echtes Kino zu erkennen. Er ist bei "Das kalte Herz" wie beim Kammerspiel vorgegangen, also mit langen Plansequenzen. Es gab meist eine Größe, keine Fahrten, keine Closeups, keine Steadycams. Das war ganz reduziertes, schlichtes Ar-beiten mit der Kamera und genau diese Ambivalenz fand ich reizvoll, in-dem er eben nicht nach vorne geht, versucht Schneewittchen einzubau-en und fette Musik, draufzuhauen. Er sagt lieber: Nein, wir wollen diese Welt schaffen, aber in diesem Kosmos ist eigentlich alles reduziert auf Figuren und Gefühl. Das hat mir unheimlich gut gefallen. Eine schlaue Herangehensweise und ästhetisch natürlich oberkrass. Johannes ist ei-gentlich ein Oberbeleuchter, deswegen hat er ein ganz eigenes Auge für Licht und Cadrage, also den Bildausschnitt.

 Hairapetian: Wie war die Zusammenarbeit mit Frederick Lau, der den Kohlenmunk-Peter gegeben hat und dem du als Michel das echte Herz durch ein steinernes ersetzt?

 Bleibtreu: Er ist einer, der keine falschen Töne spielt, ausgestattet mit einer unheimlichen großen Offenheit, der sich wirklich in eine Figur fal-lenlassen kann. Freddy ist ein Junge mit dem Herzen am rechten Fleck und einem guten Geschmack, deswegen sicherlich auch jemand, mit großer Zukunft.

 Hairapetian: Wie stehst du als Künstler, der aus einer klassischen Schauspielerfamilie stammt, zu den neuen Formaten wie Online-Streamern?

 Bleibtreu: Finde ich gut. Die Streamer haben das Filmverständnis von heute revolutioniert, nicht das Fernsehen. Der Satz: "Früher ist alles besser gewesen!" ist eine der dümmsten Plattitüden, die es überhaupt gibt. Geh ? mal 60 Jahre zurück, dann weißt du wieviel besser war, näm-lich gar nichts. Das ist Luxusgeblubber. wenn man selbst seit 20 Jahren keinen Film mehr gemacht hat und alles lobt, was früher toll war und dabei heute alles negativ über einen Kamm schert. Da muss man auch mit der Zeit gehen. Wichtig ist doch: Wie können wir als Geschichtener-zähler unsere Geschichten weitererzählen? Ich verstehe Tarantino mit seiner Liebe zum Cineasten-Kino. Ich habe als Theaterkind diese senti-mentale Verbindung zu den Brettern, die die Welt bedeuten. Das Kino wird nicht sterben. Genauso wenig wie das Radio gestorben ist, als der Song "Video Killed the Radio Star" (singt) 1980 die Charts eroberte. Das Theater ist seit 30 Jahren am Sterben und trotzdem immer noch nicht tot. Es wird nur so sein, dass sich die Gewichtung verlagert. Der Raum für das cineastische Kino wird kleiner werden. Klar, New Hollywood war toll, doch man darf auch nicht vergessen, was das für eine politische Zeit damals war. Reagan kam an die Macht, die Leute dachten, die Welt geht unter und dementsprechend radikal war das Kino auch im Mainstreambereich. Heute leben wir in einer Zeit, wo uns letztendlich die Trauben in den Mund wachsen.

 Hairapetian: Zumindest im Westen...

 Bleibtreu: Klar, wir sprechen von hier. Schau dir diesen Scheißüberfluss an, in dem wir leben. Genauso weichgespült sind unsere Filme und das ist eine logische Konsequenz. Jede Zeit hat ihre starken Filme. Es gibt keinen Grund mehr dafür, heute so krasse Filme wie in den 1970ern zu machen. Es muss etwas anderes sein. Man muss gucken, wie man sich positioniert. Auch als Schauspieler.

 Hairapetian: Trotzdem gibt es unsterbliche Helden, die deine Mutter Monica Bleibtreu sehr verehrte und die auch dir viel bedeuten. Woher rührt die gemeinsame Begeisterung für das österreichische Schauspie-lergenie Oskar Werner?

 Bleibtreu: Meine Mutter hat Oskar Werner noch persönlich kennenge-lernt und war sehr stolz darauf. Sie hat ihn unfassbar verehrt, was ich sehr verstehen kann. Das ging sogar soweit, dass ihr langjähriger Le-bensgefährte Wolfgang Schumacher, der als Schauspieler unter dem Künstlernamen Malte Thorsten bekannt wurde, ihm äußerlich ähnlich sah. Oskar Werner ist für mich einer der ganz Großen. Diese wahnsin-nige Sehnsucht nach Liebe, die er ausgestrahlt hat! Und die Sehnsucht nach Harmonie und nach Glück! All diese unbeantworteten Fragen und Zweifel, die er in seinem Blick gehabt hat! Das war einfach ein Mensch, der wahnsinnig viel Liebe geben konnte und sich auf der anderen Seite selbst nach Liebe verzehrt hat. Dieser Widerspruch, der die ganze Zeit in ihm war, war etwas ganz, ganz Einzigartiges.

 Hairapetian: Worin lag schauspielerisch diese Einzigartigkeit begründet?

 Bleibtreu: Er musste nichts machen, um großartig zu sein. Er musste einfach nur gucken, ob er gesungen hat oder gespielt, das war egal, das war alles voller Leidenschaft und - wichtig in diesem Zusammen-hang - gänzlich uneitel. Ein Mensch, bei dem man immer gemerkt hat, der interessiert sich für sich so gar nicht, nur für das, was beim Publi-kum ankommt und für seine Figur. Er wäre sicher einer der größten Ki-nostars der Weltgeschichte geworden, wenn er sich von der Verführung zahlreicher lukrativer Hollywood-Angebote hätte einholen lassen. "Jules et Jim" war für mich einer der wenigen Liebesfilme, die ich in meiner Ju-gend sah, der mich wirklich geschmissen hat und zwar wirklich haupt-sächlich wegen ihm, einfach weil das damals für mich solch eine Projek-tionsfläche für nicht erfüllte Liebe, Leidenschaft und Romantik war. Er war ein großer Teil der Inspiration meiner Mutter und ist es noch.

Das Interview mit Moritz Bleibtreu führte Marc Hairapetian am 29. August 2016 im Soho House Berlin für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de / www.spirit-fanzine.com

Die Fotos von Moritz Bleibtreu und Marc Hairapetian (auch diejenigen mit der Oskar-Werner-Memorial-Print-Edition von SPIRIT - EIN LÄ-CHELN IM STURM) machte Heiko Lehmann für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de / www.spirit-fanzine.com