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"Es ging immer nach vorne!"

Interview mit Fußball-Weltmeister und Eintracht-Frankfurt-Legende Jürgen Grabowski zum 70. Geburstag am 7. Juli

Von Marc Hairapetian

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 Marc Hairapetian: Waren Sie, als Sie 1965 zur Eintracht kamen, eigentlich selbst Fan von diesem Verein, dem bis heute das Etikett der "launischen Diva vom Main" anhaftet?

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 Jürgen Grabowski: Ich war Eintracht-Fan, weil der Wiesbadener Ortsteil Biebrich schon geographisch nicht weit von Frankfurt am Main entfernt ist. Es sind nur 40 Kilometer. Außerdem war die Eintracht 1959 Deutscher Meister und hatte im Europapokal der Landesmeister mit dem Eindringen ins Finale für Furore gesorgt. Das 3:7 gegen Real Madrid in Glasgow vor der europäischen Rekordkulisse von 134.000 Zuschauern ist ja mehrfach und noch vor kurzem wieder zum "Spiel des Jahrhunderts" gewählt worden, was sicherlich auch an der attraktiven Spielweise der Eintracht lag, die sich überhaupt nicht gegen das damals übermächtige Real nur hinten reinstellte. Diese Erfolge haben natürlich für mich schon Duftmarken gesetzt. Ich muss allerdings fairerweise sagen, dass die "roten Teufel" um Fritz Walter, auch eine Mannschaft waren, für die ich damals geschwärmt hatte. Doch vom 1. FC Kaiserslautern kam kein Angebot. Der leider mittlerweile verstorbene Eintracht-Stratege Alfred Pfaff gehörte immer zu meinen Lieblingsspielern - und so war das schon eine tolle Sache, als mich Frankfurt 1965 wollte. Mit Alfred hatte ich immer einen guten Kontakt. Vorhin habe noch ich mit seiner Witwe telefoniert und ihr zum Geburtstag gratuliert, was sie sehr gefreut hat.

 Marc Hairapetian: Bereits 1966 gehörten Sie zum Kader der Nationalelf bei der WM in England, auch wenn Sie dort noch nicht zum Einsatz kamen. Hätten Sie gedacht, dass es damals so schnell mit ihrer Karriere vorangehen würde?

 Jürgen Grabowski: Nein, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Es war erst einmal mein großes Ziel, bei der Eintracht Fuß zu fassen. Ich kam von FV Biebrich 02 und spielte zuvor in der höchsten Amateurklasse in Hessen in einer spielstarken Mannschaft. So hatten wir 1962 - meine Person eingeschlossen - fünf 18jährige in der ersten Elf. Das waren drei wunderbare Jahre! Damals war es so, dass man über einen langen Zeitraum etwas zeigen musste, bevor einen ein Bundesligist gekauft hat. Heute werden die Talente schon mit 15, 16, ja sogar 14 Jahren transferiert. Durch meine Hessen-Pokalspiele für Biebrich und einen Einsatz in der Deutschen Fußballnationalmannschaft der Amateure sind die Frankfurter auf den jungen Mann aus Wiesbaden aufmerksam geworden. Dass ich dann so schnell in der Deutschen Fussballnationalmannschaft zum Einsatz kam, lag sicherlich an unserem damaligen Eintracht-Trainer Elek Schwartz, der von Benfica Lissabon kam, wo er Eusebio trainiert hatte. Elek liebte technisch guten Fussball und führte bei uns das sehr offensive 4-2-4-System ein. Er sagte bei seinem Amtsantritt im Juli 1965: "Jürgen Grabowski wird in einem Jahr in der Nationalmannschaft spielen!" Sie können sich vorstellen, dass mir das als jungen Spieler, dem von Trainer nach nur ein paar Trainingseinheiten solch ein Vertrauen entgegengebracht wurde, einen ungeheuren Schub versetzt hat. In England dabei zu sein, war natürlich für mich selbst eine Sensation. Bei der Eintracht sofort Stammspieler zu sein, nach neun Monaten das erste Länderspiel zu bestreiten und nach zwölf Monaten beim World Cup zu sein - das alles wurde mir selbst geradezu unheimlich. Deswegen war ich auch nicht sauer, dass ich in England keinen Einsatz hatte. Wir waren damals acht oder neun Kollegen, die nicht zum Zug kamen. Es war ja die letze WM, bei der Aus- bzw. Einwechslungen erlaubt waren.

 Marc Hairapetian: Sie haben es eben selbst angeschnitten: Eintracht Frankfurt stand in Ihrer Ära Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre immer für Offensivfußball mit hoher Spielkultur. Warum hat es nie zum Meistertitel gereicht?

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 Jürgen Grabowski: Das ist relativ leicht zu beantworten und trotzdem auch nicht schlüssig: Wir hatten wirklich eine spielstarke und technisch gute Mannschaft. Wir waren oft, was das Tore schießen angeht, weit vorne. Auch wenn wir auswärts spielten, sahen uns die Leute gerne, weil es immer offensiver Fußball war. Aber für 34 Bundesliga-Spiele in der Saison war vielleicht - man muss es so brutal sagen - die Leistungsdichte nicht gut genug. Und damals war es ja nicht so, dass zur neuen Saison fünf, sechs neue Spieler kamen. Da kam vielleicht einer hinzu. Es hat letztendlich nicht gereicht. Wir haben gegen die Bayern sehr oft sehr gut gespielt, in Frankfurt fast immer gewonnen. Ich habe gegen die Bayern 13 Mal gewonnen. Ich glaube, so häufig hat kein anderer sie geschlagen. Das waren immer tolle Spiele in Frankfurt. Da hat man gesehen, dass wir bereit waren, gegen große Gegner zu gewinnen. Über 34 Spieltage waren uns Bayern München und Borussia Mönchengladbach voraus, obwohl wir sie in der Saison häufig geschlagen haben.

 Marc Hairapetian: 1975 deklassierten Sie mit der Eintracht den FC Bayern mit 6:0. Dabei gelang Ihnen ein Traumtor fast von den linken Eckfahne aus in den rechten Torwinkel. War das Ihr schönstes Tor?

 Jürgen Grabowski: Ich habe es mir jetzt ein paar Mal auf YouTube angeschaut, obwohl ich so etwas früher nie gemacht habe. Ich habe mir das WM-Endspiel gegen Holland von 1974 nie nochmals komplett angesehen, auch nicht das Halbfinale gegen Italien bei der WM 1970. Das glaubt einem niemand. Doch dieses Tor gegen Bayern gefällt mir, wenn ich es jetzt betrachte, immer noch. Es war wirklich ein direkter Torschuss. Ich bin ja Rechtsfüßler, konnte allerdings auch mit links schießen und hatte den Ball dann damals mit dem linken Außenrist geschossen. Das sind halt so Highlights in einer Fußballkarriere, dass man den Ball so getroffen hat, das alles gepasst hat.

 Marc Hairapetian: Legendär war Ihre Aufholjagd mit der Eintracht in der Saison 1976/77 mit 21 Spielen hintereinander ohne Niederlage, zahlreichen Kantersiegen und mit 86 erzielten Toren den meisten aller Bundesligavereinen. Von Platz 16 ging es für Sie noch auf den vierten Platz - nur zwei Punkte vom Meister Mönchengladbach entfernt. War ihr damaliger Coach Gyula Lóránt wirklich einer der besten Trainer unter denen Sie spielten?

 Jürgen Grabowski: Ich habe ja schon gesagt, dass ich dem Elek Schwarz als Trainer sehr viel zu verdanken habe. Dann war der Erich Ribbeck da, der war ok. Auf ihn folgte Dietrich Weise, das war ein Guter mit dem wir den DFB-Pokal jeweils 1974 und 1975 gewannen. Doch Guyla Lóránt hat in dem nur einen Jahr indem er da war unglaublich viel bewirkt. Er hat uns Selbstvertrauen eingeimpft ohne Ende. Als er kam, waren wir in akuter Abstiegsgefahr - und er hat uns dann ein neues System eingeimpft, dass die Raumdeckung vorwegnahm. Am Anfang haben wir uns nur verwundert angesehen, weil wir auf der Tafel nur Striche gesehen haben.. Auf einmal war es eine wunderbare Zeit, da hat man noch lange davon geschwärmt. Und deswegen war ich wütend, dass er mitten in der nächsten Saison zu Bayern München ging. Er kam mit den Offiziellen der Eintracht nicht so klar. Er hätte uns mit Sicherheit noch einige Jahre gut zu Gesicht gestanden und wir hätten mit Sicherheit noch große Erfolge gehabt. Das glaube ich zumindest. Aber wir haben dann im Wechsel mit Lorant den Dettmar Cramer bekommen, ein Supertrainer und netter Mann, der für die Mannschaft immer da war und sich vor sie gestellt hat. Doch Gyula Lóránt war wirklich ein ganz besonderer Trainer.

 Marc Hairapetian: War er eigentlich streng als Trainer oder eher humoristisch veranlagt?

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 Jürgen Grabowski: Ja, er machte manchmal einen humoristischen Eindruck, doch er war streng. Er hatte die Mannschaft total im Griff, war eine Respektsperson, aber er flachste auch ab und zu, wie Sie es gerade gesagt haben. Wir hatten viel Spaß bei ihm, aber wir wussten genau wie weit wir bei ihm gehen konnten, weil er die absolute Autorität war.

 Marc Hairapetian: Ich habe gelesen, dass selbst wenn Sie 7:1 geführt haben, er noch nach dem 8:1 geschrien hat. Er hat Sie wohl immer angetrieben?

 Jürgen Grabowski: Ja, das war so eine Sache, die uns richtig auf den Leib geschneidert war. Wir waren eine technisch gute Mannschaft, offensiv ausgerichtet, mit anderen Worten: Es ging immer nach vorne! Das System war damals einfach so. Deshalb fällt es mir heute unglaublich schwer, wenn ich Fußball sehe. Ich weiss, dass sich Systeme im Lauf der Jahre immer wandeln, doch es gefällt mir nicht, dass der Ball pausenlos zirkuliert wird. So wie es eng wird, wird der Ball zum Verteidiger oder Torwart zurückgespielt. Bloss kein Ballverlust ist die Devise. Das war bei uns anders. Wir sind mehr Risiko gegangen, auch berücksichtigend, dass der Ball mal verloren wird. Da hatten wir eine Abwehr, die musste den Ball wieder erkämpfen und musste ihn uns auf dem schnellsten Weg wieder zuspielen. Es war bei uns nicht so, dass wir pausenlos zurückgespielt haben, nur um im Ballbesitz zu bleiben. Wir haben den Zweikampf mit dem Gegenspieler gesucht, um an das gegnerische Tor zu kommen. Ich hoffe, dass das irgendwann wieder der Fall sein wird. Bei der WM in Brasilien hat man in den Gruppenspielen gesehen, dass es wieder schneller nach vorne geht. Ich hoffe, dass die Trainer wieder den Mut haben, mehr nach vorne zu spielen und nicht nur auf Ballsicherung aus sind.

 Marc Hairapetian: Wenn man sich beispielsweise das Halbfinale im Europapokal der Pokalsieger von 1976 ansieht, wo Eintracht Frankfurt im Rückspiel in London unglücklich gegen West Ham United ausschied, entsteht der Eindruck, dass das Spiel auch 10:8 anstatt 1:3 hätte ausgehen können. Es gab ja mitunter Chancen im 15 Sekundentakt.

 Jürgen Grabowski: Das stimmt. Wir hatten das Hinspiel in Frankfurt noch 2:1 gewonnen. Es ging wirklich ständig hin und her. Ich habe mir noch letztens mehr Ausschnitte des von Ihnen eingangs zitierten 1975er Heimspiels Eintracht Frankfurt gegen Bayern München angesehen. Es hört sich jetzt vielleicht überheblich an, aber wir hätten wirklich zweistellig gewinnen können. Wir hatten Torchancen am laufenden Band. Es stand ja schon zur Halbzeit 5:0, dann hat Bernd Nickel einen Eckball direkt verwandelt zum 6:0 und danach hatten wir im Minutentakt bis zum Ende Torchancen. Es war wirklich unfassbar! Da ist mir jetzt erst so richtig klar geworden, dass es bei uns nur nach vorn ging. Wir wollten nicht nach dem 6:0 mal ein bisschen den Ball hin und her spielen, nein, wir waren heiss darauf das 7:0 oder 8:0 zu machen.

 Marc Hairapetian: Das ist wohl der Grund warum internationale Fußballkenner von dieser Mannschaft der 1970er Jahre bis heute von Fußballkennern noch so schwärmen. Dabei wird bei Wikipedia verkündet, dass die Eintracht-Mannschaft von 1991/92 mit ihrem "Fußball 2000", der sie nur ganz knapp die Meisterschaft am letzten Spieltag verspielen liess, die beste aller Zeiten wäre.


 Jürgen Grabowski: Da hat die Eintracht auch sehr gut gespielt, dass muss ich ganz ehrlich sagen, auch eine Saison darauf, wo Anthony Yeboah noch Jay-Jay Okocha zur Seite gestellt wurde. Sie wissen ja, die Vergangenheit hat gegen die Gegenwart keine Chance. 1991/92 ist noch mehr Gegenwart wie wir in den 1970ern und Anfang 1980. Deshalb kann ich damit gut leben. Wir aus den 1970er wissen schon, dass wir ganz gut Fussball gespielt und die Leute begeistert haben.

 Marc Hairapetian: Warum waren aber damals die Zuschauerzahlen im Waldstadion, bis auf die stets ausverkauften Spiele gegen Bayern München, oftmals so gering?

 Jürgen Grabowski: Wir hatten in Frankfurt immer tolle Fans - damals wie jetzt. Nur damals waren die Leute etwas kritischer. Wir hatten mal in der Saison 1965/66 65.000 Zuschauer gegen Bayern München, mehr als das Stadion eigentlich fasste. Doch der Name "die launische Diva vom Main" kam nicht von ungefähr: Wenn wir ein Auswärtsspiel gegen Rot-Weiß Oberhausen 0.1 verloren, kamen zum nächsten Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf eben nur 13.000 oder 14.000 Zuschauer. Das war dann die Abstrafung! Wenn es gut lief oder wenn konstante Leistungen gebracht wurden, waren mehr Zuschauer da. Wenn das nicht der Fall war, kamen weniger. Heute sind - dank des abgedroschenen Wortes "Event-Charakter" - immer 50.000 da, egal ob das letzte Spiel gut oder schlecht war. Das hat nach der Fertigstellung der neuen Stadien 2006 begonnen. Heute ist es einfach "schick", ins Stadion zu gehen. Da sind auch viele Leute dabei, die vom Fußball weniger Ahnung haben und nicht kommen, um zu kritisieren, das ist für die Vereine natürlich eine angenehme Geschichte. Früher waren viel mehr ehemalige Fußballspieler im Stadion als heute.

 Marc Hairapetian: Vielleicht wäre die Eintracht damals noch erfolgreicher gewesen, wenn Sie von mehr Zuschauern unterstützt worden wäre...

 Jürgen Grabowski: Vielleicht. Aber Sie haben schon gemerkt, dass ich unsere Fans von früher in keinster Weise abqualifizieren will. Heute wird schon gejubelt, wenn ein Torschuss zehn Meter über das Tor geht. Da wurde bei uns gepfiffen. Und das war auch richtig so.

 Marc Hairapetian: Nach dem WM-Sieg 1974 traten sie aus der Nationalelf zurück. Helmut Schön wollte Sie in Ermangelung eines anderen Spielmachers zur WM 1978 zurück holen. Warum sagten Sie ab?

 Jürgen Grabowski: Ich bin auch nach wie vor nicht stolz, dass ich diese Entscheidung so getroffen habe. 1974 erklärte ich meinen Rücktritt, weil ich während der WM enttäuscht war. Nachdem DDR-Spiel, das wir verloren hatten, war ich raus aus der Mannschaft. Wir hatten ja einen Bayern-Block und es wurde uns von Journalisten zugetragen, die Bayern hätten da mitgewirkt. Ich fragte dann den Beckenbauer, ob da etwas dran wäre. Er verneinte es und ich nahm ihm das ab. Gegen Schweden sass ich erst einmal stinksauer auf der Bank, wurde dann, als es schlecht lief, eingewechselt. Vielleicht half der liebe Gott mit, jedenfalls machte ich das vorentscheidende 3:2 - und war wieder drin. Ich spielte dann gegen Polen bei der sogenannten "Wasserschlacht von Frankfurt" und im Endspiel gegen Holland und war froh, das alles ein glückliches Ende genommen hatte. Die Entscheidung nicht mehr in der Nationalelf zu spielen, hatte mit dem Posten als Rechtsaußen zu tun, dem ich zwar alles verdanke, mit dem ich aber nicht zufrieden war. Damals war es noch so, dass man an der Linie kleben musste, um das Spiel nicht eng zu machen. Man musste warten, bis man den Ball bekam. Und ich war ein kreativer Spieler, der bei der Eintracht eine ganz andere Rolle spielte. In der Nationalmannschaft musste ich mit den wenigen Bällen, die ich bekam, das Bestmögliche machen, was mir auch häufiger gelang, immerhin machte ich 44 Länderspiele und war bei drei Weltmeisterschaften dabei. Doch irgendwie hatte ich nie das Gefühl, zeigen zu können, was wirklich in mir steckte. Ich habe dann die nächsten sechs Jahre, also im Alter von 30 bis 36, wo es normalerweise ein bisschen weniger wird, meine beste Zeit gehabt und bei der Eintracht im Mittelfeld befreit aufgespielt. Es war eine schöne Auszeichnung für mich, auch für meine Leistung in der Zeit, dass 1978 Helmut Schön mich mit zur WM nach Argentinien nehmen wollte und ich überlegte es mir wirklich lange. Ich wusste, dass, wenn ich absagen würde, ich vielen Leute vor den Kopf stoßen würde.Doch nachdem ich 1974 direkt nach dem WM-Sieg an meinem 30. Geburtstag zurückgetreten war, blieb ich dann auch 1978 dabei, nicht mehr für die Nationalelf zu spielen. Ich weiß nicht, das räume ich offen ein, ob die Entscheidung 1974 richtig war, genauso wenig wie 1978, aber letzten Endes habe ich sie getroffen und stehe auch dazu. Ich hätte dann noch etliche Länderspiele mehr gemacht, obwohl die Häufigkeit der Qualifikations- und Freundschaftsspiele seinerzeit nicht so hoch war. "Ruck zuck" hat heute einer 100 Länderspiele.

 Marc Hairapetian: Den UEFA-Cup-Sieg 1980 der Eintracht im Frankfurter Waldstation konnten Sie nur als Zuschauer verfolgen, weil ein Foul des jungen Lothar Matthäus Ihre Karriere vorzeitig beendete. Waren Sie ihm damals Gram? Hat er sich überhaupt bei ihnen für sein Foul entschuldigt?

 Jürgen Grabowski: Nein. Über das Thema möchte ich nur ein oder zwei Sätze verlieren. Lothar Matthäus war damals 18, ich 35. Ich habe nie gesagt, dass er mich absichtlich verletzt hat. Es war ein dummes Foul fast an der Außenlinie, was nicht unbedingt nötig war. Ein junger Spieler hätte die Größe haben müssen, sich zu entschuldigen. Ich musste dadurch meine Karriere beenden, hätte ansonsten noch ein Jahr dran gehängt. Ich war im UEFA-Cup-Endspiel nicht dabei, was weh getan hat. Es kam nie ein Satz von ihm wie "Es tut mir leid" - und das ist halt schade.

 Marc Hairapetian: Ihr Spitzname bei den Eintracht-Fans ist "Grabi". Mögen Sie ihn überhaupt?

 Jürgen Grabowski: Da habe ich kein Problem mit. Das sehe ich auch als Zeichen der Wertschätzung. Ich kam mit den Fans gut klar und war relativ beliebt bei ihnen. Sie singen heute noch zu Beginn das Lied "Schwarz - Weiß wie Schnee - das ist die SGE" und da komme ich auch drin vor, da läuft es mir immer eiskalt über den Rücken.

 Marc Hairapetian: Sind Sie häufig im Stadion?

 Jürgen Grabowski: Ja, ich bin häufig da. Wenn alles normal läuft bin ich von 17 Heimspielen in der Saison mindestens 15 Mal da. Zu Auswärtsspielen fahre ich allerdings nicht mehr mit.

 Marc Hairapetian: Wer war Ihr liebster Mitspieler und wer Ihr bester Gegenspieler?

 Jürgen Grabowski: Ich habe mit so vielen guten Spielern zusammengespielt, da möchte ich keinen hervorheben oder zurücksetzen. Gegenspieler? Ich hatte 15 Jahre einen Sonderbewacher, der einen ausschalten sollte, und dies habe ich im gewissen Sinn auch als Auszeichnung aufgefasst: Es war Berti Vogts von Borussia Mönchengladbach. Häufig auch im Verbund mit seinem Mitspieler Rainer Bonhof. Bei Bayern München war es zumeist Paul Breitner. Heute wird durch die Systemänderung mehr im Raum gedeckt und nicht der Mann. Das ist natürlich für einen kreativen Spieler ein Segen. Wenn ich überlege, dass ich damals jeden Ball hätte annehmen können! Heute ist natürlich dann eine Mauer mit drei, vier Spielern vor einem, was es auch nicht einfach macht. Früher war es so, dass wenn man den unmittelbaren Gegenspieler abgeschüttelt hatte, man im ersten Moment mehr Freiheiten hatte. Aber ich kann Ihnen eines sagen: Die Duelle mit Berti Vogts waren schwer, aber immer fair. Das waren Duelle auf Augenhöhe, die einem Spaß machten und wo man sagen konnte: "Ich bin heute in guter Form, ich bin besser als du!"

 Marc Hairapetian: Wo wir gerade über Systemveränderungen sprechen: Inwiefern hat sich der Fußball für Sie verändert? Würden Sie sagen, dass die 1970er aus dem spielästhetischen Verständnis heraus ein wertvolleres Zeitalter waren?

 Jürgen Grabowski: Das ist unwahrscheinlich schwierig, wenn man als älterer Spieler die damalige Zeit hervorhebt - das kommt nicht gut an. Tatsache ist - zu jeder Zeit hat man gut Fußball gespielt. Es wird ja immer gesagt, dass der Fußball früher langsam war. Ich glaube, es liegt ein bisschen auch an der Kameraeinstellung, wenn man heute Spiele von früher sieht. Heute wird alles aufbereitet aus verschiedenen Perspektiven und mit Naheinstellungen, so wirkt es dynamischer. Doch ein 25jähriger Spieler von damals war genauso schnell wie einer von heute. Wenn ich Champions-League-Spiele sehe, da geht die Post schon nach vorne ab, doch es sind auch viele Fehlpässe dabei. Es ist selten, dass ein Stürmer in der Hektik den Abwehrspieler ausspielt. Die meisten Tore fallen doch aus Standardsituationen heraus - auch bei der Deutschen Nationalmannschaft. Technisch versiert waren die Spieler damals schon, da brauchen sie sich nicht hinter den Spielern von heute zu verstecken. Wenn Sie sagen, dass die Spiele damals nicht unbedingt langsamer waren, als die von heute, ist es mir lieber, als wenn ich es sage. (lacht)

 Marc Hairapetian: Wie gefällt Ihnen bisher Deutschland bei der WM?

 Jürgen Grabowski: Im Vorfeld war Deutschland nicht so stark eingeschätzt worden, weil die Vorbereitungsspiele, vor allem gegen Chile, schlecht waren. Und auch der hohe Sieg gegen Armenien wurde überbewertet, da die Armenier in der ersten Halbzeit sehr gut gespielt hatten und sogar in Führung hätten gehen können. Erst am Ende waren sie nicht mehr so präsent und bekamen dann die vielen Gegentore.

 Marc Hairapetian: Und Gastgeber Brasilien?

 Jürgen Grabowski: Die Brasilianer sind nicht mehr so glanzvoll wie früher, können aber auch fighten. Gegen Mexiko, Chile und Kolumbien waren es ganz enge Spiele.

 Marc Hairapetian: Wer wird Weltmeister 2014?

 Jürgen Grabowski: Argentinien ist ein echter Anwärter. Sie sind nicht mehr so überragend wie früher, aber sie haben ja Messi. Auch wenn es bei einer WM andere Gesetze gibt, werden es mit Brasilien, Argentinien, Deutschland und Holland diejenigen, die man schon vor Wochen auf dem Zettel hatte, unter sich ausmachen. (Er hat Recht! Die von ihm genannten vier Teams haben sich alle für das Halbfinale qualifiziert. Anmerkung der SPIRIT-EIN-LÄCHELN-IM-STURM-Redaktion am 6. Juli 2014)

 Marc Hairapetian: Geht Ihnen bei seinem Spiel als ehemals technisch starker Mittelfeldstratege, der selbst viele Tore, darunter 109 in der Bundesliga, erzielt hat, das Herz auf?

 Jürgen Grabowski: Ja, Messi ist mein absoluter Favorit, weil der Junge bekommt ständig auf die Hölzer, auch wenn er nicht in Manndeckung genommen wird. Ottmar Hitzfeld hat es ja in seinem letzten Spiel als Trainer für die Schweiz gesagt. Wenn ich Trainer wäre, würde ich einen Mann wie Messi immer in Manndeckung nehmen. Da würde ich einen Spieler von mir opfern und sagen: Du engst die Kreise von ihm ein! Messi ist ein Spieler, den sieht man einfach gerne: Er macht Dribblings, er schießt Tore, er geht Risiko. Er ist für mich derzeit der beste Fußballer!

 Marc Hairapetian: Ganz zu Beginn des Fußballs hat man mit sieben Stürmen gespielt, dann mit fünf. Als die Brasilianer 1958 im 4-2-4 spielten galt es zunächst als defensiv. Sie haben jahrelang im 4-3-3 gespielt. Jetzt wird fast nur noch mit einem Stürmer gespielt - und das ist sogar häufig ein "falscher Neuner" aus dem offensiven Mittelfeld. Gefällt Ihnen diese Entwicklung?

 Jürgen Grabowski: Nein. Wenn man vor dem Fernseher sitzt, sieht alles sensationell aus. Doch in Wirklichkeit ist es etwas langsamer, als es scheint. Wenn ich im Stadion sitze, relativiert sich alles. Da kommt ein Gegner mit einer Spitze, die gegnerische Abwehr spielt sich den Ball zu und der arme, dumme Kerl läuft sich die Lunge aus dem Hals und kommt nie an den Ball. Wenn es wirklich mal ein bisschen gefährlicher wird, wird sofort zum Torwart zurückgespielt. Das kann einem ja nicht gefallen. Wenn ich im Stadion bin, das ist jetzt nicht Eintracht-spezifisch, aber es kann passieren, dass der Tabellenfünfte gegen den Tabellensechzehnten spielt und der Torwart der Auswärtsmannschaft bekommt in einer Halbzeit nur zwei Bälle aufs Tor. Das kann es doch nicht sein! Das ist einfach langweilig. Derjenige, der etwas mehr Ahnung vom Fußball hat, kann dabei nicht jubeln. Ich hoffe, dass sich da in nächster Zeit etwas tut. Der FC Barcelona ist mit der Spielweise ohne echten Stürmer berühmt geworden, aber sie haben es in Perfektion gemacht, zehn Meter vor dem gegnerischen 16er, wo es eng ist. Da hat der Messi trotzdem seine Tore gemacht. Alle anderen, die das kopiert haben, machen das über den ganzen Platz, weil sie einfach nicht so gut sind wie Barcelona. Bei Bayern kommt ja noch etwas bei raus, doch beim Rest gibt es meist langweilige Spiele.

 Marc Hairapetian: Ist also früher doch mehr "passiert"?

 Jürgen Grabowski: Es ist mehr passiert, weil - ich wiederhole mich hier gerne - mehr nach vorne gespielt wurde. Ein Beispiel. Wenn wir früher mit der Eintracht Fünfter waren und sind zu Rot-Weiss Essen, die auf dem fünfzehnten Platz waren, haben wir keine Schnitte gekriegt. Die Essener haben uns niedergemacht und Powerplay aufgezogen. Wir mussten uns verteidigen und sind relativ schwer an das gegnerische Tor gekommen. Wir wollten das zwar, aber der Heimvorteil war so gross, auch weil sich die Essener nicht hinten rein gestellt hatten. Unser Torwart Doktor Peter Kunter war bei ihnen unter Dauerbeschuss.

 Marc Hairapetian: Interessant, dass Sie gerade Rot-Weiss Essen genannt haben, weil doch die Eintracht gerade gegen diese Mannschaft ihre höchsten Bundesliga-Siege mit einem 9:1 zuhause und einem 8:1 auswärts erzielt hat.

 Jürgen Grabowski: Stimmt, aber wir haben dort auch schon andere Spiele erzielt und sind gar nicht richtig rausgekommen.

 Marc Hairapetian: Haben Sie mit den Mitspielern von einst heute noch Kontakt?

 Jürgen Grabowski: Ich sehe sie bei den Heimspielen: Peter Kunter, Bernd Hölzenbein, Willi Neuberger, Bernd Nickel. Und dann spielen wir mittlerweile alle Golf. Da sieht man sich auch.

 Marc Hairapetian: Wie ist Ihr Handicap?

 Jürgen Grabowski: Es ist noch einstellig, auch, wenn ich in letzter Zeit etwas schlechter geworden bin.

 Marc Hairapetian: Wo landet die Eintracht nach dem Umbruch mit Trainer Thomas Schaaf nächste Saison? Viele Leistungsträger haben den Verein ja verlassen.

 Jürgen Grabowski: Thomas Schaaf wird es schwer haben. Rode, Schwegler, Joselu und Schröck, den ich gar nicht schlecht gesehen habe, sind weggegangen. Ich habe nie verstanden, dass Stephan Schröck so wenig gespielt hat, denn der Junge wollte unbedingt und ist immer marschiert, hat gekämpft und gerackert. Das ist für mich persönlich ein Verlust. Jetzt müssen Neuverstärkungen her, die einschlagen. Thomas Schaaf gibt mir Hoffnung, das Beste aus der Situation zu machen. Es ist schon mal positiv, dass er angekündigt hat, mit zwei Stürmern zu spielen, denn die Tendenz muss wieder dahin gehen, dass man als Heimmannschaft den vermeintlich schwächeren Auswärtsgegner unter Druck setzt.

 Marc Hairapetian: Eintracht Frankfurt hatte als von jeher weltoffener Verein mit Ender Konca aus der Türkei und später dem legendären Stürmer Cha Bum-kun aus Südkorea als einer der ersten Bundesligaverein auch Spieler aus vermeintlich "exotischen" Ländern verpflichtet. Gab es in Ihrer Zeit auch schon rassistische Anfeindungen gegen diese Spieler aus dem Lager der gegnerischen Mannschaften?

 Jürgen Grabowski: Nein, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Es gab auch keine Bengalos. Natürlich wurde man bei Auswärtsspielen von den gegnerischen Fans etwas angemacht, aber nicht so unter der Gürtellinie. Bei uns waren auch später Spieler wie Tony Yeboah und Jay-jay Okocha absolute Publikumslieblinge.

 Marc Hairapetian: Ihr Mitspieler Karl-Heinz "Charly" Körbel, der bis heute Bundesliga-Rekordspieler ist, unterstützt als Botschafter die Initiative "Respekt! Kein Platz für Rassismus". Wären Sie bereit, sich auch dafür zu engagieren ?

 Jürgen Grabowski: Jederzeit, aber ich bin leider, bis auf jetzt von Ihnen, noch nicht angefragt worden.

 Marc Hairapetian: Wie werden Sie Ihren 70. Geburtstag feiern?

 Jürgen Grabowski: Die Eintracht macht in der Commerzbank-Arena oben im Business-Bereich eine Geburtstagsfeier von 11 bis 15 Uhr. Viele Leute werden kommen. Ich wollte das zuerst nicht, denn ich hatte schon meinen 50. Geburtstag groß gefeiert - und davor, wenn man so will, noch größer meinen 30., als ich am 7. Juli 1974 im Olympiastadion Weltmeister wurde. An sich wollte ich mir den Stress nicht noch einmal antun, aber es ist jetzt so gekommen, dass es die Eintracht ausrichtet. Ich kriege das schon irgendwie hin!



Das Interview mit Jürgen Grabowski führte Marc Hairapetian am 4. Juli 2014 für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de. SPIRIT-EIN-LÄCHELN-IM-STURM-Herausgeber Marc Hairapetian ist seit seiner Kindheit glühender Anhänger von Eintracht Frankfurt. Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein sind bis heute seine Lieblingsfußballspieler. Hairapetian, dessen Nachbar in Frankfurt-Preungesheim der ehemalige Eintracht-Nationalspieler Peter Reichel war, sah als Zuschauer Jürgen Grabowski nicht nur häufig bei zahlreichen Spielen im Waldstadion (heute Commerzbank-Arena), sondern auch bei Auswärts- und Freundschaftsspielen. 1979 besuchte er als 11jähriger - von Kopf bis Fuss im Eintracht-Dress gewandet - die Frankfurter Präsentation des Buchs "80 Jahre Fußballzauber" und wurde für das Kicker -Sportmagazin zusammen mit "Grabi" abgelichtet. Dies bescherte dem späteren Journalisten unverhofft eine erste, millionenhohe Auflage... :-)