„Was mich am Leben hält ist Neugierde.“

Interview mit dem britischen Schauspieler
John Hurt zu seinem 70. Geburtstag

Von Marc Hairapetian

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Der am 22. Januar 1940 im englischen Chesterfield (Derbyshire) geborene John Vincent Hurt zählt seit Mitte der 1970er Jahre zu den besten Charakterschauspielern seiner Generation. Er erlangte Popularität durch Filme wie „12 Uhr nachts“ (1978), „Alien“ (1979), „Der Elefantenmensch“ (1980), „1984“ (1984) oder „V wie Vendetta“ (2006). Vier Mal verheiratet hat er zwei Kinder aus seiner dritten Ehe mit Jo Dalton. Im folgenden Gespräch zieht er ein Resümee seiner langen Karriere und verteilt Lob und Tadel, wo er es für angebracht hält.

John Hurt: Ist das Ihr Hund? Ein wunderschöner Hund! (Zu SPIRIT-EIN-LÄCHELN-IM-STURM-Redaktionshund Hokis gewandt:) Du bist ein wunderschöner Hund! 

Marc Hairapetian: Hokis weiß das, aber er ist nicht eingebildet! Mr. Hurt, zu Ihrem 70. Geburtstag häufen sich die Ehrungen. Beim Braunschweiger Filmfestival haben Sie Mitte November den Schauspielerpreis „Die Europa“ erhalten. Welchen Stellenwert haben für Sie nach dem Gewinn des Golden Globe und zwei Oscar-Nominierungen solch relativ kleine Auszeichnungen?

John Hurt: Jeder Preis ist klein, es wäre närrisch zu denken, ein Preis wäre groß. Dennoch ist es eine schöne Anerkennung dafür, dass man seinen Job gut macht, ob nun mit einer leichten Komödie oder mit einem intellektuellen Drama. In Braunschweig, wo ich unter anderem Hannah Schygulla kennen lernte, war man sehr charmant und höflich zu mir, mehr als in Großbritannien, wo man nur darauf lauert, dass ich wieder dem Alkohol verfalle. Man lud mich ein – und warum sollte ich absagen, wenn ich einen Preis für Verdienste um die europäische Filmkultur erhalte? Was mich am Leben hält ist Neugierde! Ich liebe es Länder von innen kennen zu lernen und eben nicht von den Küstenregionen, denn da gibt es nur Tourismus. 

Hairapetian: Stimmt es, dass Sie kein Freund des Method Acting sind?

Hurt: Ich bin kein Method Actor in der Art, wie man es heute versteht. Stanislawski, der diese Art von Schauspiellehre entwickelte, und Lee Strassberg, der sie in den USA unterrichtete, wollten die Schauspieler am Theater damals mit neuer Energie und Leidenschaft erfüllen. Ich glaube, dass ist heute nicht mehr nötig. Ich glaube, dass man kein guter Schauspieler sein kann, ohne ein Geschenk, das man bereits in sich trägt. Man kann auch nicht Komponist werden, wenn man keine Ahnung von Komposition und Imagination hat. Method Acting verlangt, dass man die Rolle fühlt, doch es ist nicht wichtig, was man selbst als Schauspieler beim Spielen empfindet, sondern was das Publikum dabei fühlt. 

Hairapetian: Sie haben in Europa, aber auch in Hollywood gearbeitet. Sehen Sie da beim Filmen Unterschiede?

Hurt: In der Tat. In Europa geht man als Schauspieler zur Rolle und verschmilzt dann mit ihr. Beim amerikanischen Studiosystem ist es umgekehrt: Hier wird die Rolle zum Star gebracht und wird so zum Image des Künstlers. Der europäische Ansatz ist mir näher.

Hairapetian: Welche war die für Sie bedeutendste Rolle?

Hurt: Ich weiß ehrlich nicht, was ich darauf antworten soll, auch wenn es gerade in meinem Kopf rattert, besonders witzig zu antworten. Eine Rolle ist schwer mit einer anderen zu vergleichen. Genauso verhält es sich mit der Frage: Wer war Ihr bester Regisseur? Zumindest nicht Michael Cimino, der 1980 für „Heavens Gate – Das Tor zum Himmel“ soviel Filmmaterial belichtete, das man 21 Mal von Dover nach Calais und zurück nach Dover hätte fahren können. Der an sich ausgezeichnet fotografierte Film wurde zum Flop, weil er am Schneidetisch die Übersicht verlor. Ein Part, der mein Leben veränderte, war der des homosexuellen Exzentrikers und Entertainers Quentin Crisp, den ich erstmals 1975 in „The Naked Civil Servant“ für die BBC und letztmalig 2008 in „An Englishman in New York“ verkörperte. Es war mein Durchbruch als Charakterschauspieler, aber auch ein Pyrrhus-Sieg: Man beschimpfte mich öffentlich als „Schwulen“, der ich nie war, und bot mir lange Zeit keine weiteren Rollen an.

Hairapetian: Publikum und Kritik sehen allgemein die Verkörperung des körperlich deformierten John Merrick in „Der Elefantenmensch“ (1980) als Ihre beste schauspielerische Leistung an.

Hurt: Vielleicht haben sie damit Recht. Es ist eben ein David-Lynch-Film. Kaum jemand wusste damals, was für ein großartiger Regisseur er werden sollte. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich es zumindest schon ahnte. Es gab zudem ein wunderbares Drehbuch, die Besetzung mit Anthony Hopkins, John Gielgud, Wendy Hiller oder Freddie Jones war erstklassig. Wir waren uns damals nicht bewusst, einen „Klassiker“ zu drehen. Man gibt einfach das Beste, das man kann – und denkt da nicht vorausgreifend an Preise.

Hairapetian: Es ist ein sehr spezieller David-Lynch-Film. Er berührt das Herz mehr als all seine anderen Arbeiten.

Hurt: Mit „Eraserhead“ gab Lynch zuvor dass narrative Element auf; der Film war mehr wie eine Reise. Man darf aber nicht vergessen, dass „Der Elefantenmensch“ von Mel Brooks produziert wurde und dieser ist ein großer Geschichtenerzähler. Er setzte beispielsweise die Rückkehr des Elefantenmenschen nach seiner Flucht aus England durch.

Hairapetian: Stimmt es, dass Sie sieben Stunden am Tag für das Make-up brauchten?

Hurt: Wir reduzierten es auf sieben Stunden am Tag! Am Anfang dauerte es gar zwölf Stunden. Die Maske des Kopfes bestand allein aus 22 verschiedenen Stücken.

Hairapetian: War es schwierig für Sie, die Rolle mit soviel Make-up zu spielen? 

Hurt: Mit soviel Make-up kannst Du nicht Dein Gesicht benutzen wie Du das sonst machst. Es ist nicht mehr Dein Antlitz, sondern das von John Merrick. Aber der wahre John Merrick hätte vermutlich ein schauspielerisches Problem gehabt... Also ist die Frage: Wie bewege ich meinen künstlich deformierten Kopf, um gewisse Dinge auszudrücken? Ich entschloss mich für eine etwas verlangsamte Art. Genau deswegen habe ich ein Problem mit Method Acting. Was du als Schauspieler fühlst spielt eben keine Rolle. Manchmal musst Du Tricks anwenden, um es elektrisierend für die anderen zu machen. Ich sehe Schauspieler, die bis in die Haarwurzeln fühlen, doch es kommt nichts rüber. Ein berühmtes Beispiel ist Christian Bale. Er fühlt alles, doch es vermittelt sich nicht dem Publikum – zumindest mir nicht.

Hairapetian: Gibt es Schauspieler, die Sie bewundern?

Hurt: Oh, ja! Allen voran Oskar Werner. Bis auf seine frühen österreichischen Filme habe ich alle seine Kinoarbeiten gesehen. „Jules und Jim“ ist mein absoluter Lieblingsfilm. Auch in „Entscheidung vor Morgengrauen“ und „Das Narrenschiff“ war er großartig. Er hatte, die Fähigkeit, Texte zu lesen und mit seiner Empathie für das Publikum umzusetzen wie kein anderer. Sein wunderschönes Gesicht strahlte eine gewisse kluge Traurigkeit aus. Er ist viel zu früh gestorben.

Hairapetian: Oskar Werner war auch kein Method Actor...

Hurt: Gewiss nicht. Marlon Brando, der sich Oskars Sterbeszene in „Der letzte Akt“ 24 Mal hintereinander vorführen ließ, übrigens auch nicht. Ich kannte Marlon gut. Er arbeitete viel mit Tricks, weil er sich – wie Richard Burton, mit dem ich zusammen die Neuverfilmung von George Orwells Dystope „1984“ machte - seinen Text häufig nicht merken konnte. Überall hingen in den Setdekorationen Zettel. Deswegen wendete er beim Drehen so häufig den Kopf -und weil er zu allem Überfluss noch kurzsichtig war, zog er manche Sätze in die Länge oder nuschelte sie. Doch wie er das machte, das war wirklich genial!

Welche „Altersrollen“ reizen Sie? King Lear wohl nicht, oder?

Hurt: Das Problem mit King Lear ist, dass es jeder spielen will. Und ich will das Publikum nicht mit einer weiteren Interpretation langweilen. Der Part wurde ohnehin von wesentlich jüngeren Kollegen erfolgreicher gespielt als von Älteren. Unvergesslich ist mir Paul Scofield, der ihn mit Ende 30 so gut spielte, dass man sich nicht vorstellen konnte, er wäre noch ein relativ junger Mann. Ob ich nun weiter im Film, TV, Theater oder Radio agiere, macht für mich keinen Unterschied. Ich bekomme jetzt nicht mehr die Rollen wie ein 30 oder 40jähriger, das ist klar, doch ich sehe es auch als Herausforderung an, ein neues Feld zu beackern. Meine schauspielerische Neugierde zu befriedigen, war mir immer mehr wert, als das große Geld zu verdienen. Und mit den Rollen, die ich spielen möchte, zahlt heute – bis in Ausnahmefällen – auch niemand mehr das Geld in rauen Mengen. Aus finanziellen Gründen wirke ich 2010 und 2011 in zwei weiteren „Harry Potter“-Adaptionen mit, doch ich würde nie behaupten, dass Mr. Ollivander meiner Traumrolle entspricht. Die gibt es auch gar nicht.

Was möchten Sie dem Publikum vermitteln?

Wichtig ist für mich, dass Kunst und Unterhaltungswert Hand in Hand miteinander gehen. Man darf sich aber auch nicht zu sehr spezialisieren, sonst langweilt man das Publikum. 

Haben Sie Angst vor dem Alter?

Ich sage es mal so: Es ist keine Schande, sich seinen Ängsten zu stellen. Wichtig ist, dass man auch mit 70 geistig flexibel bleibt und den Mut hat, seine althergebrachten Meinungen zu überdenken beziehungsweise zu ändern. 

 
Das Gespräch führte Marc Hairapetian. Das Foto von Claudette James, John Hurt und Marc Hairapetian machte Dirk Alper am 15. November 2009.