Größere Ansicht anzeigen

Zeit für einen cineastischen Paradigmenwechsel

Interview mit Regisseur Fernando Meirelles zu seinem neuesten Film „360“

by Marc Hairapetian

Drucken

Der am 9. November 1955 in Sao Paulo geborene Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Fernando Meirelles war zunächst Architekt bis er 1983 mit dem Kurzstreifen „Marly Normal“ zum Film kam. Seinen internationalen Durchbruch hatte er mit der Literaturverfilmung „City of God“ (2002). Die vorwiegend mit Laien besetzte Gewaltstudie brachte ihm zahlreiche Preise, darunter eine Oscar-Nominierung 2004 als „Bester Regisseur“ , ein. Es folgte weiteres Autorenkino mit „Der ewige Gärtner“ (2005) und „Die Stadt der Blinden“ (2008). Bei seinem Berlin-Besuch spricht er im Hotel „The Regent“ über den neuen Episoden-Film „360“, cineastische Vorbilder und visuelle Veränderungen.

Größere Ansicht anzeigen Marc Hairapetian: Ihr Episoden-Film „360“ ist inspiriert von Arthur Schnitzlers berühmten Stück „Der Reigen“. Wie kam es dazu?

Fernando Meirelles: Der Film hat nicht viel mit dem Stück „Der Reigen“ gemein. „360“ spielt auch zum Teil in Wien, es kommt eine Prostituierte wie bei Schnitzler vor, aber der Rest ist doch ganz anders, nicht wahr? „360“ spielt beispielsweise auch in den USA , England und Frankreich. Um ehrlich zu sein, war es die Idee meines Freundes und Drehbuchautoren Peter Morgan, der ja schon die Skripte zu außergewöhnlichen Filmen wie „Frost/Nixon“ und „Der letzte König von Schottland“ lieferte. Das österreichische Fernsehen fragte ihn, ob er etwas zum 150. Todestag von Arthur Schnitzler schreiben könnte. Da er Schnitzler, liebt, sagte er begeistert zu. Und dann kam ich für die Regie ins Spiel.

Marc Hairapetian: War es nicht gefährlich, einen Film zu drehen, der von Cineasten sofort mit Max Ophüls 1950 entstandenem Meisterwerk „La Ronde“ verglichen werden würden?

Fernando Meirelles: Sicher ist die Messlatte hoch, aber wie einst bei „La Ronde“ für den Ophüls wunderbare Schauspieler wie Simone Signoret, Daniel Gélin, Jean-Louis Barrault oder Gérard Philipe gewinnen konnte, haben wir mit Rachel Weisz, Anthony Hopkins, Jude Law oder Moritz Bleibtreu auch eine großartige Besetzung. Unsere Filmstruktur ist allerdings kubistisch - wie bei Würfelwürfen treffen die unterschiedlichen Figuren eher zufällig aufeinander, gehen auseinander - und treffen sich wieder.

Marc Hairapetian: Warum ist Schnitzler, der 1932 starb, heute noch so wichtig? Stanley Kubrick machte 1999 aus der „Traumnovelle“ sein finales Epos „Eyes Wide Shut“.

Fernando Meirelles: Ich liebe „Eyes Wide Shut“! An sich bin ich nicht befugt, darüber zu sprechen, da ich beschämender Weise zugeben muss, bisher nur den „Reigen“ und nicht Schnitzlers erzählende Werke wie „Traumnovelle“ oder „Spiel im Morgengrauen“ gelesen zu haben. Ich werde das aber nachholen. Bisher fasziniert mich an ihm, dass Stil und Inhalt einander bedingen. Lieben, Träumen, Sterben in stilistischer Vollendung - bei Schnitzler ist das ganze Leben drin. Keine Figur ist nur selbstlos, aber auch Schurken haben menschliche Züge. Das macht ihn zeitlos.

Marc Hairapetian: Wie haben Sie die Schauspieler ihrer internationalen Besetzung gefunden?

Fernando Meirelles: Ein Casting-Agent zeigte mir mehrere Schauspielergesichter, die zu Peters Drehbuch passten. Natürlich hatte ich schon den einen oder anderen beim Lesen im Kopf. Der Vorteil bei „360“ ist, dass es nicht so schwer war, große Namen wie Anthony Hopkins oder Jude Law zu gewinnen, da die Drehzeiten für die jeweilige Episoden nur kurz waren. Häufig müssen Schauspieler für den Dreh bei einer Filmrolle bis zu einem halben Jahr ihres Lebens „opfern“. Hier konnte ich argumentieren: „Wir drehen am Wochenende und selbst bei einer Verzögerung bist Du Dienstag wieder zuhause!“

Marc Hairapetian: Haben Sie eine favorisierte Episode?

Fernando Meirelles: Ja, gleich zwei! Einmal die mit Ben Foster, der als ehemaliger Vergewaltiger nach langer Therapie entlassen wird und Angst hat, rückfällig zu werden. Just da wird er am Flughafen von der jungen Brasilianerin Maria Flor in der Rolle der Laura regelrecht angemacht. Sie wirft ihre sonstige Scheu über Bord, da sie ihren Liebeskummer mit ihrem Freund, der sie betrogen hat, vergessen will. Ben spielt die Rolle absolut glaubhaft. Man fiebert und leidet mit ihm, obwohl er auf den ersten Blick recht in sich gekehrt wird. Doch das ist nur Selbstschutz, damit die Bestie Mensch in ihm nicht wieder ausbricht.

Marc Hairapetian: Und die zweite Episode?

Fernando Meirelles: Es ist die, wo am Ende des Films der am Wiener Ring im Auto wartende russische Fahrer eines mafiösen Geschäftsmannes von einer jungen Slowakin angesprochen wird. Ihre Schwester, die sich als Prostituierte verdingt, trifft sich ausgerechnet mit seinem Boss im Hotelzimmer. Zwischen dem zuerst stoischen Fahrer und dem unschuldigen Mädchen beginnt ein zarte Liebesgeschichte, die deswegen in Gang kommt, da beide Träumer sind, die sich mehr in der Welt der Literatur zu Hause fühlen, als im wirklichen Leben. Gabriela Marcinkova als Anna und Vladimir Vdovichenkov als Sergei sind einfach hinreißend. Ich kannte Vladimir vorher nicht, sah ihn nur in russischen Filmen ohne Untertitel, die mir der Casting-Agent zeigte. Dabei war seine Verpflichtung gerade die schwerste, weil er in seiner Heimat inzwischen ein absoluter Superstar ist. Er ist total ausgebucht und auch im Umgang nicht einfach, aber wie er spielt, macht das alles wett.

Marc Hairapetian: Möchten Sie mit Darstellern aus dem Cast noch ein weiteres Mal arbeiten?

Fernando Meirelles: Ja, vor allem mit Moritz Bleibtreu, der bei mir einen erpresserischen Proleten im Business-Gewand gibt . Er ist ein netter, lockerer Typ, wirklich sehr easy going. Ähnlich wie der französische Marokkaner Jamel Debbouze, der in „360“ ein schüchterner Zahnarzt ist, dem sein strenger moslemischer Glauben verbietet, einen Neuanfang mit seiner Assistentin Valentina, die von Dinara Drukarova gespielt wird, zu wagen, die wiederum Sergeis frustrierte Ehefrau ist...

Marc Hairapetian: War es ein langer Weg von „City of God“ zu „360“? Was werden Ihre nächsten Projekte sein?

Fernando Meirelles: Ich drehe im Oktober einen Film namens „Nemesis - The True Story of Aristotle Onassis“, der auf einem britischen Buch basiert. Und dann entwickle ich eine brasilianischen Geschichte. Der Werktitel ist „Rio, eu te amo“. Seit zehn Jahren, also seit „City of God“, habe ich keinen Kinospielfilm mehr dort als Regisseur gedreht. Es wird Zeit, filmisch zurückzukehren. Dabei sehe ich mich mittlerweile als internationaler Regisseur. „Die Stadt der Blinden“ war eine kanadisch-japanisch-brasilianische Produktion, „360“ gar eine österreichisch-englisch-französisch-us-amerikanische.

Marc Hairapetian: Welche Filme haben Ihren Regiestil, der sehr dokumentarisch anmutet, beeinflusst?

Fernando Meirelles: Ich war ja zuerst Architekt, doch als ich den dokumentarisch wirkenden Spielfilm 1976 „Iracema - Uma Transa Amazonica“ von Jorge Bodanzky sah, war es um mich geschehen! Ich musste den Beruf wechseln, was zunächst gar nicht so einfach war. Ich gebe unverhohlen zu, dass Bodanzkys deutsch-brasilianischer Film den Stil von „City of God“ stark beeinflusst hat. Auch Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“, den sonst keiner mag, war sehr wichtig für mich. Mitten im Film wechselt er die Stilmittel. Von den neueren Filmen haben mich Terrence Malicks Meisterwerke „The Thin Red Line“ und „Tree of Life“ sowie Gaspar Noés sehr gewalttätiger Trip „Enter the Void“ begeistert, weil hier der visuelle Weg wie die Geschichten erzählt werden, jeweils sehr eigen ist. Die beiden Regisseure verändern die Paradigmen des heutigen Kinos. Dafür bin ich auch bereit. Geschichten müssen visuell hautnah erzählt werden, man muss nach neuen Wegen suchen, sowohl optisch als auch inhaltlich konventionelle Pfade verlassen.
Marc Hairapetian: Der verstorbene Produzent Bernd Eichinger nannte „City of God“ seinerzeit den „besten Film“, den er „in den letzten zehn Jahren gesehen“ hätte. Haben Sie ihn kenngelernt?

Fernando Meirelles: Ja, ich traf ihn in München, nachdem er „City of God“ geschwärmt hatte. Er hatte ein Filmprojekt für mich.

Marc Hairapetian: Welches war es?

Fernando Meirelles: Es war „Das Parfum“. Doch wir wurden nicht einig. Ich hätte jedenfalls einen anderen Film gemacht, als es Tom Tykwer getan hat.


Das Gespräch mit Fernando Mereilles führte Marc Hairapetian für SPIRIT – EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de am 4. Juli 2012 im Hotel The Regent Berlin. Das Foto von Fernando Mereilles mit SPIRIT-EIN-LÄCHELN-IM-STURM-Ausgabe machte Marc Hairapetian. Das Bild von Fernando Mereilles und Marc Hairapetian schoss Marten Schumacher. Der deutsche Kinostart von „360“ ist am 16. August 2012.