Kunst allein kann nie genügen

 

Der Regisseur und Schauspieler als Kamera: PATRICE CHÉREAU wurde 60

 

Von Marc Hairapetian

 

Mit 19 Jahren war er der jüngste Bühnenregisseur Frankreichs. Drei Jahre später leitete er bereits ein Theater. 30jährig inszenierte er an der Pariser Oper. Seine Bayreuther Version von Wagners „Der Ring der Nibelungen“ verursachte zuerst einen Skandal, um später als „Jahrhundert-Ereignis“ gefeiert zu werden. Für Patrice Chéreau, das Wunderkind des Theaters und der Oper, war das Kino lange Zeit „nur die Geliebte“ – inzwischen ist er mit dem Film verheiratet und wird ihm nur noch selten untreu. Eines ist all seinen Arbeiten gemeinsam: Bei aller formalen Faszination, die von ihnen ausgeht, haben sie das Publikum inhaltlich nachhaltig verstört. Er versucht sich selten zu wiederholen, dennoch wiederholen sich Motive und Konstellationen in seinen Filmen. Das Ausloten menschlicher Beziehungen ist ihm dabei ebenso wichtig, wie politisch Stellung zu beziehen.

Er macht Regie-Theater bzw. -Kino, dennoch bleibt er Max Reinhardts Credo „Das Heil kann nur vom Schauspieler ausgehen.“ treu: „Ich habe immer Interesse an Schauspielern gehabt. Ich glaube, viele meiner Kollegen fürchten sie. Doch man muss sie ermutigen, das Beste aus sich herauszuholen.“, weiß Chéreau, denn: „Wenn die Schauspieler nicht gut sind, gibt es auch nichts zu zeigen. Dann braucht man die Kamera überhaupt nicht.“ Chéreau sieht sich als „Moralist“, gerade weil er immer wieder Tabubrüche provoziert. So scheute er nicht davor zurück, in „Intimacy“ den Zuschauer, für den die Zurschaustellung des weiblichen Geschlechts in zahlreichen „künstlerisch wertvollen“ Erotikthrillern nichts neues mehr ist, mit dem erregierten Penis seines Hauptdarstellers Mark Rylance zu konfrontieren. Allerdings verkommt die Provokation bei ihm nie zum Selbstzweck. Sie hat vielmehr mit der Realität zu tun, vor dem puritanische Cineasten im Kino nur zu gern die Augen verschließen.

Chéreau selbst ist immer offen mit seiner Homosexualität umgegangen, hat sie gelebt und auch vermehrt in sein Werk einfließen lassen. Dennoch war er einer Ohnmacht nah, als er das erste Mal in der Zeitung davon las: „Es war ein Schock, nicht weil es mir etwas ausmacht, wenn die Leute es wissen, sondern weil ich es zum ersten Mal schwarz auf weiß sah. Ich hatte nie darüber gesprochen. Man wird so leicht festgelegt. Homosexuell zu sein, bedeutet viel, aber es bedeutet nicht alles. Es wäre ein Fehler, die Inhalte meiner Arbeit darauf zurückzuführen. Aber nun hat man diesen bequemen Schlüssel.“

Das künstlerische Naturell wurde ihm in die Wiege gelegt, obwohl er schon von Kindesbeinen immer sehr bodenständig gewesen ist: Der am 2. November 1944 in Lézigné im französischen Maine-et-Loire geborene Sohn einer Zeichnerin und eines erfolglosen Malers, „der sich hin und wieder Affairen mit Männern gönnte“, sammelte bereits als Schüler Erfahrungen als Schauspieler und Regisseur einer Laienspielgruppe. Der Germanistikstudent hatte von früh an ein Faible für deutschsprachige Schriftsteller. Zählten Goethe, Hölderlin und Brecht zu seinen frühen Helden, stürzte er sich später auf das zeitgenössische Werk Heiner Müllers, dessen Stücke er neben denen seines früh verstorbenen Freundes Bernard-Marie Kolté am liebsten inszenierte. Nach seiner ersten professionellen Regie im Jahre 1964 mit „L’Affaire de la rue de Lourine“, leitete er von 1966 bis 1969 das Theater Sartrouville in Paris. Seinen endgültigen Durchbruch hatte er mit der umstrittenen Inszenierung von „Richard II.“ am Odéon Théatre de France. Ab 1972 war er zusammen mit Roger Panchon Direktor des renommierten Théatre National Populaire in Lyon-Villeurbanne.

Nach seiner die alteingesessene Festspieltradition auf den Kopf stellenden „Ring“-Inszenierung in Bayreuth 1976, die er selbst aber „zu 2/3 grottenschlecht fand“, wendete sich der Rock- und Popmusik-Hörer vermehrt politischen Projekten zu wie der szenischen Konstruktion des Prager Geheimprozesses gegen Exponenten der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ im Pariser Théatre du Soleil zu.

Filme drehte der „fanatische Kinogänger“ zuerst nur im Abstand von vier bis fünf Jahren – „zur Erholung vom Theater und der Oper“. In seinem Debüt „Das Fleisch der Orchidee“ (1974), das so mancher Kritiker für seinen besten Film hält, flieht die junge Claire (Charlotte Rampling) aus der Nervenheilanstalt. Auf ihrer Flucht lernt sie Louis kennen, der von den Auftragskiller-Brüderpaar Berekian gejagt wird, weil er sie bei einem Mord beobachtet hat. Claires Tante nimmt den verletzten Louis auf, doch die Brüder Berekian bemächtigen sich der hilflosen Claire, um einen Austausch zu erpressen. Chéreaus Thriller über erschreckende Normalität und alltäglichen Wahnsinn bezieht seine Suspense aus der Entwicklung seiner Heldin, die mystisch-feenhaft aus dem Nebel auftaucht, deren Erscheinen aber immer mit Verderbnis und Tod verbunden ist. Über die Horroreffekte hinaus, geht der Film psychologisch-philosophischen Problematiken auf den Grund. Normal ist für Chéreau derjenige, der sich von Fremdzwängen befreit. Krank derjenige, der andere daran hindert.

Im Film „Der verführte Mann“ (1983) tötet ein Junge den Mann, den er liebt, nachdem er mit ihm geschlechtlich verkehrt hat. „Ihn zu töten, ist die einzige Möglichkeit, ihn zu besitzen.“, sagte Chéreau einmal, um auf die Frage zu antworten, ob er vielleicht selbst jener Junge wäre: „Ich bin ihm sehr ähnlich. Nur habe ich nie jemanden getötet. Auch bin ich als Jugendlicher nicht auf Bahnhofstoiletten gegangen, um Männer zu treffen. Was mich mit dem Jungen verbindet, ist seine Einsamkeit. Ich war in meiner Jugend vollkommen einsam, so einsam, wie man nur sein kann. Ich hatte keine Freunde, gehörte zu keiner Clique. Alles, was in diesem Alter normal ist, Fußball zu spielen, Tanzen zu gehen, hat mich nicht interessiert. Ich kam mir vor wie ein Fremder. Ich bin nicht wie der Held meines Films zum Bahnhof, sondern zum Theater gegangen. Die Leute dort waren schöner.“

Seinen wohl bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Film „Die Bartholomäusnacht“ (1994) wollte er als Mafiafilm wie „Der Pate“ oder „Es war einmal in Amerika“ inszenieren. Herausgekommen ist ein prächtiger Kostümfilm mit einer fantastischen Isabelle Adjani als „La reine Margot“ (so der französische Originaltitel), die sich in der sinnlichen wie blutrünstigen Literaturverfilmung nach Alexandre Dumas einen Hauch von Menschlichkeit bewahrt. Das Ränkespiel in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen findet vor dem Hintergrund des Religionskriegs in Frankreich, bei dem mehrere Tausend Protestanten in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572 bei einem vom katholischen Königshaus initiierten Gemetzel den Tod fanden, statt. Der Friede, der vier Tage zuvor noch durch die Heirat der katholischen Königsschwester Margot mit dem protestantischen König Henri von Navarre inszeniert wurde, erhielt in der so genannten „Bartholomäusnacht“ einen schweren Rückschlag. Chéreau choreographiert sie als farbenfrohes Fest für die Sinne; die äußerst mobile Kamera führt mitten hinein in die Menge der Intriganten, Mitläufer und Statisten. Sie geht an die Menschen heran, liest in ihren Antlitzen, schweift über ihre Gesten und Posen – ohne aufdringlich zu wirken. Wie sich die trotz kreideweißem Porzellangesicht hinreißend schöne Isabelle Adjani auf die Seite der unterdrückten Protestanten mit ihrem zwischen beiden Parteien zerrissenen Ehemann Henri (überzeugend ängstlich: Daniel Auteil) und ihrem feurigen Liebhaber La Mole (etwas blass: Vincent Perez) schlägt, ist sehenswert, wird aber noch übertroffen davon, wie der kränkliche, blutrünstige und schwache König Karl IX. (dekadent-einfältig: Jean-Hughes Anglade) und sein verschlagener Bruder Anjou (hinterhältig gut: Pascal Greggory) als hilflose Marionetten an den Strippen ihrer machtgierigen Mutter Katharina von Medici (kalt und charismatisch: Virna Lisi) zappeln. Chéreau versuchte darüber hinaus noch den Zeitbezug zur jüngsten Geschichte (in diesem Fall der serbische Völkermord an den Kroaten im ehemaligen Jugoslawien, der während der Dreharbeiten seinen grausigen Höhepunkt erreichte) herzustellen. Allerdings hätte er bei der Nachstellung des Massakers an den Protertanten auf die deplaziert wirkende Ethno-Musik von Goran Bregovic lieber verzichten sollen.

Fast alle kinematographischen Werke Chéreaus tragen autobiografische Züge – so auch „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ (1998), indem Jean-Louis Trintignant eine an Chéreaus Vater gemahnende Figur eines homosexuellen und exzentrischen Malers verkörpert, der auch im Tod für Aufregung unter seinen Verwandten und Freunden sorgt. Während der Bahnfahrt zu seinem Begräbnis kommt es zwischen ihnen zu einer Reihe von mitunter grotesken Begegnungen, bei denen sich sentimentale Erinnerungen und bittere Selbsterkenntnisse offenbaren. Während mancher Kritiker in der Tragikomödie ein Panorama der Hassliebe und zerstoben Träume sah, urteilte „Prisma-Online“ vernichtend: „Ein weiterer Film über Menschen und deren Probleme mit nervender Handkamera eingefangen.“ Der selbstkritische Chéreau („Kunst allein kann nie genügen“), der sich für die „Dogma“-Filme seiner dänischen Kollegen begeisterte, setzte fortan diese weniger ein.

Gleichzeitig Skandal und Triumph wurde „Intimacy“, der 2001 überraschend vor dem großen Favouriten „Traffic“ den Golden Bären der Internationalen Filmfestspiele Berlin gewann. Wie einst bei Bernardo Bertoluccis „Der letzte Tango von Paris“ (1972) wurde bei Chéreaus in England gedrehtem Film erneut die Diskussion entfacht, wo sich die Grenzen zwischen Pornografie und Darstellung von Sexualität ziehen lässt. Jay (Mark Rylance) und Claire (Kerry Fox) treffen sich jeden Mittwoch in einem leer stehenden Haus, um Sex zu haben. Sie sagen nichts, sie fragen nicht, und nach einer Stunde geht Claire wieder. Als sich Jay für sie über die Körperlichkeit hinaus zu interessieren beginnt und ihr nachspürt, stellt sich heraus, dass die versierte Amateurschauspielerin verheiratet ist und ein Kind hat. Doch das Wissen um den anderen gestaltet sich hier destruktiv für die Fortführung der „Beziehung“ zwischen den beiden. Jay, der selbst unter der Trennung von seiner Familie leidet, verliert nun auch Claire. Ihre Liebe hat nur wortlos funktioniert. „Intimacy“, der den frenetischen Erzählrhythmus von „Die Bartholomäusnacht“ und „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ deutlich drosselt und vielmehr auf ruhige Einstellungen setzt, ist mit seiner ungeschminkten Rauheit, die wiederum die Schönheit des Films ausmacht, eine Reflexion über die Gegensätzlichkeit von Mann und Frau. Bewusst zeigt er eine aus den Fugen geratene, amoralische Welt, die zur Alltäglichkeit geworden ist. Chéreau wertet nicht, er zeigt lediglich und erweist sich dabei als subtiler Moralist: „Die Gesetze sind heute anders. Das Traditionelle geht nicht mehr, und wir wissen das, oder? Eltern trennen sich, obwohl sie Kinder haben, Ehen zerbrechen immer öfter... Es muss alles neu definiert werden.“

„Sein Bruder“ (2003) beschäftigte sich mit einem noch engeren, familiären Beziehungsgeflecht: Der homosexuelle Luc (Eric Caravaca) kümmert sich hier nach längerer Funkstille aufopferungsvoll um seinen todkranken, älteren Bruder Thomas (Bruno Todeschini). Eine Umkehrung alter Klischees und auch eine Metapher für das Leiden, bei dem man unweigerlich an Jesus Christus denkt. Obwohl die Feuilletons voll waren und der Film mit Preisen (unter anderem Silberner Bär für die „beste Regie“) überhäuft wurde, blieben die Kinosäle bei „Sein Bruder“ weitgehend leer. Chéreau zeigte dafür sogar Verständnis: „Die Leute haben Angst vorm dem Krankenhaus, haben Angst vor allem. Aber das war so geplant. Auf Arte hat er fast eine Million Zuschauer gehabt, und jetzt kommt er in die Kinos. Wenn 70.000 Leute ihn dort sehen, ist das schon perfekt.“

Chéreau gehört zu den wenigen Regisseuren, die auch selbst als Schauspieler in Werken anderer Filmemacher zu beeindrucken wissen, ob als charmant-bedrohlicher französischer General Montcalm in Michael Manns bildgewaltigem Abenteuerfilm „Der letzte Mohikaner“ (1992), der sich gegenüber James Fenimores „Lederstrumpf“-Zyklus allerdings gravierende Freiheiten herausnimmt, oder als unscheinbarer Bürger in Michael Hanekes „Wolfszeit“.

In den letzten Jahren verlor er zunehmend die Lust an der Oper, er lehnte es 2003 ab, erneut in Bayreuth – diesmal „Parzival“ zu inszenieren. Auch das Zureden seines Dirigenten-Freundes Piere Boulez half nicht: „Die Musik ist phantastisch, aber die Musiker sind fürchterlich.“ Und: „Die Musik bedeutet für den Künstler eine große Disziplin, aber leider sind die Opernhäuser schrecklich undiszipliniert. Wenn ich es vermeiden kann, inszeniere ich nie wieder an der Mailänder Scala.“ Auch die Bühne reizt ihn heute nicht mehr sonderlich: „Die Proben im Theater haben mich immer am meisten interessiert, die Nähe zu den Akteuren, um sie herumgehen und die kleinen Bewegungen korrigieren zu können. Das versuche ich auch im Film. Ich war schon immer selbst die Kamera.“ Er will zeitloses Kino machen und verehrt dabei alte Meister wie Ingmar Bergman. Von der neuen Generation sei ihm Wong Kar-Wai näher als heutige Hollywood: „Ich hasse ‚American Beauty’. Ich finde den Film durch und durch falsch. Der hat mit dem Leben überhaupt nichts zu tun. Die Schauspieler sind so enttäuschend. Alles ist ziemlich einfach gestrickt – genau der Typ vom Film, den ich nie machen würde.“ Was er dagegen demnächst mit Al Pacino in der Hauptrolle inszenieren möchte, ist ein Film über Napoleons letzte Tage auf St. Helena: „Der sterbende Diktator. Er stirbt an Arbeitslosigkeit. Was soll man tun, wenn man vorher Napoleon war? Das ist dieselbe Situation wie in ‚King Lear’. Am Anfang ist er König, und am Ende ist er verrückt. Er entdeckt das Elend des Menschen – und auch, wie er unsterblich werden kann. Was ihm gelungen ist. In zweihundert Jahren wird von Milosevic keiner mehr reden.“ Der von der Liebe enttäuschte Weltherrscher als Krebspatient und Völkermörder? Hier wird Patrice Chéreau sicher wieder Kammer- und Historienspiel in sich vereinigen.

 

Marc Hairapetian