Der Klang der Wüste, der Klang der Kälte

Von „Lawrence of Arabia“ über „Doktor Schiwago“ zu „Sunshine“:

Dem Filmkomponisten Maurice Jarre zum 80. Geburtstag

Von Marc Hairapetian


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Sie sind in erster Linie für die Stimmungen im Film verantwortlich, spielen als wahre Virtuosen mit den Gefühlen des Publikums, auch wenn im Rampenlicht meist nur die Schauspieler und Regisseure stehen – Filmkomponisten sind dem breiten Publikum eher unbekannt. Nicht so Maurice Jarre, der am 13. September 1924 in Lyon geborene Vater des Synthesizer-Spezialisten Jean Michel Jarre und des Drehbuchautoren Kevin Jarre. Ihm gelang das Kunststück, jeweils einen "Oscar" für drei Meisterwerke von David Lean zu ergattern, zu deren Welterfolg seine Musiken maßgeblich beitrugen. Wenn man sich daran erinnert, wie Peter O’Toole als "Lawrence von Arabien" verzweifelt versuchte, die untereinander verfeindeten Araberstämme im Kampf gegen die expansionistische Türkei zu einen, hat man sofort das majestätisch-schicksalshafte Wüstenmotiv im Ohr. Jarres "Lara’s Theme" aus "Doktor Schiwago" pfiffen nicht nur die Spatzen von den Dächern; dem Stück wurde in den USA außerdem der "Peoples Choice Award" als "bester Song aller Zeiten" verliehen – noch vor "Ode an die Freude" und "Yesterday". Und der beschwingt-bombastische "Main Title" aus "Reise nach Indien" entsprach genau der Art von Vorhangsmusik, die Lean zu schätzen wusste.

Leidenschaft für Percussion


Wie kein anderer Filmkomponist besitzt Jarre ein Gespür für das Epische und Monumentale. Gleichermaßen Traditionalist wie Erneuerer, integriert der in Malibu lebende Franzose gerne ungewöhnliche Instrumente und Ethno-Klänge in seine Orchesterpartituren. Dabei fing er erst relativ spät mit dem Komponieren an. Als Sohn eines Rundfunktechnikers aus Lyon sollte er ursprünglich Radioingenieur werden. Mit 16 Jahren änderte Jarre jedoch seine Pläne und verkündete, dass er nach Paris gehen wollte, um fortan als Musiker, Komponist und Dirigent zu wirken: "Ich konnte nicht eine Note auf dem Klavier", erinnerte er sich später, "meine ganze Familie lachte über mich. Eine innere Stimme aber sagte mir, dass dies genau der richtige Weg sei." Am Pariser Konservatorium für Musik begann Jarre seine Studien der Harmonielehre und des Orchestrierens, wobei er bald eine Leidenschaft für Percussion-Instrumente und elektronische Klänge entwickelte. Bereits nach drei Jahren zählte er zu den besten Timpanisten Frankreichs und spielte unter namhaften Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler und Pierre Monteux. Danach arbeitete er mit Pierre Boulez als Teil eines komponierenden Teams für die Jean-Louis Barrault Company. Schließlich holte ihn Jean Vilar 1950 als Musikdirektor an das Théatre National Populaire. Während der nächsten 12 Jahre schrieb und dirigierte er annähernd 60 Stücke für Aufführungen, unter ihnen "Der Prinz von Homburg" mit Gérard Philipe in der Titelrolle, "Macbeth" und "Mord in der Kathedrale".
Jarres cineastische Arbeit begann 1952 für Georges Franjus Dokumentation "Der Invalidendom". Weitere filmische Kooperationen mit dem Regisseur des Pariser Nationaltheaters folgten, von denen der Horrorthriller "Augen ohne Gesicht" (1960) wohl die bekannteste ist. Richard Fleischer gewann ihn mit "Drama im Spiegel" (1960) für das internationale Kino. Im Anschluss daran schrieb er den Soundtrack für "Der längste Tag" (1962), bei dem Jarre erstmals sein Können für mitreißende Militärmärsche demonstrierte. Seinen endgültigen Durchbruch erreichte er mit der musikalischen Vertonung eines der größten Meilensteine der Leinwandgeschichte. Dabei sollten ihm zur "Absicherung" für das aufwändige CinemaScope-Spektakel "Lawrence von Arabien" anfangs zwei weitere Musik-Genies zur Seite gestellt werden. Doch Jarre hatte Glück: "Produzent Sam Spiegel wollte für die arabische Musik den armenischen Komponisten Aram Khatchaturian und für die britische den Engländer Benjamin Britten. Ich sollte den Rest machen. Doch Khatchaturian erhielt keine Ausreisegenehmigung aus der UdSSR, und Britten war anderweitig verhindert. Zunächst sollte dann noch Richard Rogers einspringen, doch David Lean fand dessen "Liebesthema" für den homophilen Lawrence schrecklich kitschig, und so war ich plötzlich alleiniger Komponist." Unbestritten ist, dass Jarre dabei der Einsatz eines äußerst seltenen Instruments inspirierte: Das 1924 in Frankreich erbaute Onde Martinot sieht zwar wie ein vorsintflutliches Keyboard aus, klingt aber völlig anders als ein Synthesizer. Jarre gebrauchte es vor allem in der Szene, als ein Begleiter aus Lawrences Gefolge in der Wüste verloren geht und die Sonne gnadenlos auf ihn niederbrennt: "Mein Wunsch war es, eine Art Klang der siedenden Hitze zu kreieren, die einem förmlich das Gehirn versengt."

Erfolgreiche Zusammenarbeit


Wie wenig Vertrauen die Produktionsfirma damals in den Newcomer setzte, wird deutlich, wenn man sich die Soundtrack-LP jener Zeit ansieht. Als Komponist wird Jarre zwar aufgeführt, doch als Dirigent ist Adrian Boult genannt. Der aber hob den Taktstock für die "Lawrence"-Einspielung keine einzige Sekunde lang, denn Jarre führte das Orchester selbst durch die anspruchsvolle Partitur. Die Arbeit an "Lawrence von Arabien" kostete ihn viel Kraft: "Lean stellte mir das Ultimatum, die Musik in nur sechs Wochen zu schreiben. Eine Zeit lang schlief ich alle zwei bis drei Stunden nur jeweils zehn Minuten. So konnte ich Tag und Nacht arbeiten. Nach Beendigung der Partitur und der Aufnahme war ich so müde, dass mich Sam Spiegel in die Schweiz schickte, damit ich mich richtig erholen konnte." Der Lohn für die Mühe: Jarres erster "Oscar". Fast über Nacht avancierte er zum Star unter den Filmkomponisten. Die nicht immer einfache Zusammenarbeit mit Lean wurde 1965 bei "Doktor Schiwago" fortgesetzt. Und wieder fand das Onde Martinot Verwendung, dass nun die klirrende Kälte Russlands zur Zeit der Oktoberevolution musikalisch zum Ausdruck brachte. Beim berühmten "Lara’s Theme" gebot ihm Lean allerdings, der eine erste Fassung "zu traurig" und eine zweite "zu schnell" fand: "Denken sie nicht an Doktor Schiwago und nicht an Russland, sondern an ihre Freundin." Nachdem Jarre sich das Wochenende frei genommen hatte, fand er das Lara-Thema in nur einer Stunde. Der Erfolg übertraf "Lawrence von Arabien" noch bei weitem: "Doktor Schiwago" wurde nicht nur einer der größten Kassenerfolge der 1960er-Jahre, sondern auch der Soundtrack ging in den ersten 24 Monaten zwei Millionen Mal über den Ladentisch.
Einen seiner besten Scores schrieb er für Anatole Litvaks "Die Nacht der Generale" (1966/7), bei dem ein traumatischer Walzer den schizophrenen Wehrmachtsgeneral Tanz (erneut Peter O`Toole) charakterisiert. Am Set gab es auch ein Wiedersehen mit Omar Sharif und Produzent Sam Spiegel. Ein musikalisches Porträt der Dekadenz ist sein Beitrag zu Luchino Viscontis Auftakt einer Deutschland-Triologie: Das zugleich romantische und verzerrte "Martin"-Motiv aus "Die Verdammten" (1969) entlarvt den androgynen Filmdebütant Helmut Berger als verdorbensten Spross einer über Leichen gehenden Stahl-Dynastie im Dritten Reich. Kompositionen für Regisseure wie Henri Verneuil ("Le Presidente"), Elia Kazan ("Der letzte Tycoon"), John Frankenheimer ("Der Zug", "Grand Prix"), und Alfred Hitchcock ("Topaz") folgten. Jarre selbst bezeichnet die wehmütige Musik zu "Ryans Tochter" (1970) als seine gelungenste Arbeit. Diese Aussage ist insofern verblüffend, da die von Frederick A. Young großartig fotografierte, in Irland spielende Liebesgeschichte einer sich emanzipierenden Frau Leans einziger kommerzieller Misserfolg war. 14 Jahre sollte es dauern, bis dieser mit "Reise nach Indien" wieder einen Film drehte, der ihm nicht zuletzt dank Jarre zu einem glänzenden Comeback verhalf. Zu Leans Joseph-Conrad-Hommage „Nostromo“, für die sein Stammkomponist schon zahlreiche Ideen entwickelt hatte, kam es leider nicht mehr.

Kaschubische Klänge


1979 stand Jarre vor einem ganz anderen Problem, als er Volker Schlöndorffs "Blechtrommel"-Adaption musikalisch unterfüttern sollte: Wie instrumentiert man eine Kartoffel? Nachdem er einige Tage über diese ungewöhnliche Aufgabenstellung nachgegrübelt hatte, erinnerte er sich eines Instruments, das in der polnischen Volksmusik eine wichtige Rolle spielt: Das Fujaro, ein Blasinstrument, dessen Töne wie Seifenblasen aufsteigen, brachte "genau den Sound, den ich wollte." Herausforderungen dieser Art meistert Jarre mit Begeisterung. Man denke nur an die elektronische, mit provozierenden Dissonanzen gespickte Musik zum Hollywood-Melodram "Ghost" (1990): "Es ist manchmal durchaus angebracht und auch künstlerisch richtig, ein wenig gegen den Film zu arbeiten. Durch diese kontrapunktische Arbeitsweise versuche ich mehr zum Ausdruck zu bringen, als man in der Szene eigentlich sieht. Bei ,Ghost‘ verwendete ich Alex Norths `Unchained Melody‘ und veränderte dabei ein wenig die Stimmung. Mir war daran gelegen, eher den mysteriösen Science-Fiction-Aspekt heraus zu arbeiten als die pure Romanze." Laut eigenem Bekunden verfügt Jarre über kein besonderes Talent für "komische Scores"; deswegen lehnte er den Auftrag von Peter Weir, mit dem er bei "Ein Jahr in der Hölle" (1982), "Der einzige Zeuge" (1985), "Club der toten Dichter" (1989) sowie "Fearless – Jenseits der Angst" (1993) sehr fruchtbar zusammengearbeitet hatte, für "Green Card" (1991) auch ab.
Von seinen neueren Arbeiten beeindruckte vor allem das heroische, von tiefstimmigen Eskimo-Chören begleitete Nordpol-Drama "Agaguk/Shadow of a Wolve" (1992), das geschickt Symphonieorchester, Elektronikgewitter und Schlagzeugwirbel miteinander verschmilzt. Ein besonderes Dokument seiner kompositorischen Eleganz war Jarres "Tribute to David Lean", bei dessen Aufführung er das Royal Philharmonic Orchestra dirigierte und sich noch einmal vor seinem 1991 verstorbenen Lieblingsregisseur verneigte. Erst Mitte der 1990er-Jahre wandte sich Jarre ein wenig von der Elektronik ab, um rein sinfonische Musiken wie beispielsweise den mit einem "Golden Globe" gekrönten Score für "A Walk in the Cloud" zu schreiben. Zu den wenigen ausgesuchten Projekten, die der trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch jugendlich wirkende Maestro in den letzten Jahren seine kompositorische Stimme verlieh, gehört auch István Szabós Chronologie einer ungarischen Familie in "Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein" (1999). Die Kritik war voll des Lobes. So begeisterte sich Mike Rumpf vom Online-Magazin www.filmmusik2000.de : "Sein Leitthema ist ein wunderschönes, von Schubert inspiriertes Klaviermotiv, dass die Grundlage vielfältiger Variationen über die gesamte Musik bildet. So wie sich in der Handlung geschichtliche Ereignisse wiederholen und der Mensch sich als Spielball in ihnen verstrickt, kehrt auch das Leitthema in verschiedenen Verkleidungen zurück."
Gemeinsam mit Ennio Morricone zählt Jarre zu den letzten lebenden Filmmusik-Legenden, die für die "Traumfabrik" komponieren, aber auch den europäischen Film nicht vernachlässigen. Noch in diesem Jahr soll nach einem langen Rechtsstreit endlich eine Kinoversion der in Jugoslawien mit internationaler Besetzung (u.a. Rupert Everett, Ben Gazzara) gedrehten TV-Miniserie "... and Quiet Flows the Don" (1992, Regie: Sergei Bondarchuk) zur Aufführung gelangen, für die Jarre einen an "Doktor Schiwago" und "Shogun" gemahnenden Mammut-Score erstellte. In mehr als 50 Jahren hat Jarre so über 200 Filmmusiken geschrieben, die er privat nur äußerst selten hören mag. Sein Wunschtraum: Kein Soundtrack, "aber ich wäre glücklich, wenn mir ein Klavierkonzert von Mozart eingefallen wäre."

Marc Hairapetian


Die Jarre-Zitate entstammen Gesprächen, die der Verfasser im Zeitraum von 1992 bis 2000 mit dem Komponisten geführt hat.