KIND IHRER ZEIT
Als Filmschauspielerin ist Hildegard Knef erst noch zu entdecken
Von FRANK NOACK
KIND IHRER ZEIT
Als Filmschauspielerin ist Hildegard Knef erst noch zu entdecken
Von FRANK NOACK
Hildegard Knef und Oskar Werner in Anatole Litvaks
" Enscheidung
vor Morgengrauen " (1951)
Dass ich für Hildegard Knef schwärme, liegt nicht an ihren Chansons, die für meinen Geschmack zuviel Sachlichkeit ausdrücken und zuwenig Sinnlichkeit. Marlene Dietrich vermochte, wenigstens in ihren frühen Jahren, beides miteinander zu vereinen. Ich schwärme für Hildegard Knef auch nicht aufgrund ihrer Autobiographie „Der geschenkte Gaul“, obwohl sie mir ein großes Lesevergnügen bereitet hat. Über ihre Talkshow-Auftritte sollte man lieber schweigen. Ich schwärme für Hildegard Knef aufgrund der Filme, die sie zwischen 1944 und 1953 gedreht hat. Das sollte selbstverständlich sein, schließlich ist sie durch die ersten deutschen Nachkriegsfilme zu einem internationalen Star geworden. Aber in den Nachrufen auf die Künstlerin wurde beklagt, das Kino, insbesondere das deutsche der Adenauer-Ära, habe nichts mit ihr anfangen können. Wer so etwas behauptet, beleidigt nicht nur den westdeutschen Nachkriegsfilm, er beleidigt auch Hildegard Knef, die in dieser Zeit ihr Bestes gegeben hat.
I
Wenn man untersucht, welche Phasen der deutschen Filmgeschichte vorbildlich dokumentiert sind und welche nur unzureichend, dann ergibt sich ein kurioses Bild. Über den nationalsozialistischen Film existieren gehaltvolle und differenzierte Darstellungen, obwohl persönliche Ressentiments gegen dieses Terrorregime und seine Nutznießer eine nüchterne Analyse erschweren müssten. Dagegen ist der Umgang mit dem vergleichsweise harmlosen westdeutschen Film der fünfziger Jahre von irrationalen Hassgefühlen und vorsätzlichen Informationsdefiziten gekennzeichnet. Zwei Ausnahmen verdienen Erwähnung: Claudius Seidl veröffentlichte 1987 im Heyne-Verlag ein schönes, leider viel zu kurzes Buch mit dem Titel „Der deutsche Film der fünfziger Jahre“, und Fritz Göttler steuerte für die „Geschichte des deutschen Films“ (1992) den 40-seitigen Essay „Nachkriegsfilm – Land der Väter“ bei. Seidl und Göttler beschrieben die Phase von 1950 bis 1959 nicht in dem üblichen griesgrämigen Ton, sondern blickten mit neugierigem Blick auf eine Zeit, über die nach wie vor unangemessene Klischeevorstellungen existieren: Angeblich seien damals nur Heimat- und Schlagerfilme entstanden, während die NS-Zeit verdrängt wurde. Tatsächlich konnten im Kino der Adenauer-Ära so herausragende Talente wie Helmut Käutner, Wolfgang Staudte und Bernhard Wicki reüssieren. Oskar Werner, Curd Jürgens, Maria Schell und Romy Schneider gelangten durch deutsche und österreichische Filme dieser Zeit zu Weltruhm. Seiner Tätigkeit im westdeutschen Film verdankte der experimentierfreudige Kameramann Georg Krause Engagements bei Elia Kazan und Stanley Kubrick. Ab 1956 wurde viermal in Folge ein Film aus der Bundesrepublik für den Oscar nominiert, das hat es nie wieder gegeben. Zu den wichtigsten Produzenten gehörten der ehemalige Zwangsarbeiter Gyula Trebitsch, der ehemalige KZ-Häftling Walter Koppel und Artur Brauner, der im Untergrund überlebt hat, während ein Großteil seiner Familie ermordet wurde. Top-Regisseure waren Falk Harnack, dessen Bruder und Schwägerin als Mitglieder der „Roten Kapelle“ hingerichtet wurden, und der selbst wegen seiner Kontakte zur „weißen Rose“ vor Gericht stand, sowie Bernhard Wicki, der bereits mit 19 Jahren ins KZ Sachsenhausen kam. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat es im Film der Bundesrepublik nicht so konsequent wie in der DDR gegeben, aber sie fand öfter statt als allgemein angenommen.
II
Die Geringschätzung, wenn nicht sogar Dämonisierung des westdeutschen
Nachkriegskinos kam in fast allen Nachrufen auf Hildegard Knef zum Ausdruck.
Die am 1. Februar 2002 Verstorbene wurde zu einer Künstlerin ohne Kunstwerk
erklärt, einer Frau, die zur „persona non grata“ erklärt
worden sei. Selbst Knef-Fans versuchen ständig, ihr Idol gegen seine
Filme in Schutz zu nehmen, obwohl der durchschnittliche Knef-Fan garantiert
noch nie SCHAUSPIELSCHULE oder NIGHT WITHOUT SLEEP gesehen hat, SVENGALI oder
LA FILLE DE HAMBOURG. Wer die Filme von Hildegard Knef pauschal schlecht macht,
beleidigt unfreiwillig die Frau selbst, denn warum sollte eine intelligente
Künstlerin wie sie von einem Machwerk zum nächsten stolpern? Und
wenn die Bundesrepublik die Hölle war, warum ist sie, mit ihren Kontakten
zur französischen, britischen und amerikanischen Filmindustrie, immer
wieder in dieses furchtbare Land zurückgekehrt? Vielleicht, weil hier
lohnenswerte Aufgaben auf sie warteten. Es sei die These erlaubt, dass Hildegard
Knef von ihrer Zeit profitiert hat; gerade weil sie ihr voraus war. Zehn,
zwanzig Jahre später hätte sie keinen vergleichbaren Eindruck mehr
hinterlassen. Sie benötigte die etwas biedere, harmoniesüchtige
Atmosphäre der Bundesrepublik, um sich von der Masse abzuheben.
Zur Unterschätzung ihrer Filme hat Knef selbst beigetragen. Gern erweckte
sie den Eindruck, sie habe sich als Schauspielerin nie ernst genommen, und
die Filme seien das in der Regel auch nicht wert gewesen. Über ihre Arbeit
sprach sie mit mehr Spott als Stolz. Doch in Arthur Maria Rabenalts ALRAUNE,
von der literarischen Vorlage her reinste Kolportage, bot sie eine herzergreifende
Leistung, agierte sie voller unübersehbarer Hingabe. Das wurde honoriert:
Die prüden Deutschen, die sie als SÜNDERIN verachteten, ließen
sich gleich darauf von ihr zu Tränen rühren – als Opfer eines
wissenschaftlichen Experiments in ALRAUNE, als Todkranke in ILLUSION IN MOLL,
als unglücklich Verliebte in EINE LIEBESGESCHICHTE. Sie muss gespürt
haben, dass sie in diesem Land gebraucht wurde, und ähnlich wie Harald
Juhnke brauchte sie die indiskrete Boulevardpresse, über die sie sich
so sehr ärgerte, und die doch zugleich ihren Status als nationalen Mythos
festigte.
Geboren wurde sie am 28. Dezember 1925 (zufällig mein Geburtstag, und
dazu noch das Geburtsjahr meiner Mutter) in Ulm, aber – die Ulmer mögen
es verzeihen – vom Auftreten her war sie eine waschechte Berlinerin.
Sie behielt bis zuletzt eine Eigenschaft, von der sich Marlene Dietrich früh
getrennt hat: Sie war elegant und ordinär, eine Frau von Welt und eine
Göre aus dem Kiez, ehrgeizig und lässig in einem. Den verblüffendsten
Beweis für ihre angeborenen Starqualitäten liefert ein Kurzfilm,
den Hans Robert Bortfeld in den letzten Kriegsmonaten mit dem UFA-Nachwuchs
inszeniert hat. Er heißt ebenso schlicht wie angemessen SCHAUSPIELSCHULE
und handelt von Schülern (unter ihnen Maria Milde, Harald Holberg, Heinz
Lausch und Anneliese Römer), die Texte lernen, Sprechunterricht nehmen
und sich ineinander verlieben. Natürlich muss auch irgendjemand intrigieren,
und diese Aufgabe erledigt die mit 19 Jahren erstaunlich reife Hildegard Knef
als betörende Venus im Pelz. Diese Darstellerin benötigte keinen
Lehrmeister, keinen Svengali, sie war – wie dieser kleine, nicht sonderlich
ambitionierte Film beweist – eine geborene Diva.
In Helmut Käutners UNTER DEN BRÜCKEN, gedreht von Mai bis Oktober
1944 in nicht zerbombten Teilen Berlins, ist sie als hilfloses kleines Luder
zu sehen, das sich die Namen seiner Liebhaber nicht merken kann. In der melancholischen
Komödie FAHRT INS GLÜCK, ab August 1944 vom ehemaligen Brecht-Mitarbeiter
Erich Engel inszeniert, zeigt sie sich von einer ganz anderen Seite, als braves,
schlichtes, fast knabenhaftes Mädchen, das sich seiner ordinären
Mutter (Käthe Dorsch) schämt. In diesen drei Filmen verfügt
sie über drei verschiedene Gesichter – Vamp, Flittchen und Kameradin.
Nicht schlecht für eine Nachwuchsdarstellerin, die eigentlich Zeichnerin
werden wollte. Aus dieser Phase ist überhaupt noch einiges auszugraben.
Den Aussagen ihrer Jugendfreundin Maria Milde zufolge haben beide in Arthur
Maria Rabenalts unvollendetem Farbfilm WIR BEIDE LIEBTEN KATHARINA Zwillingsschwestern
gespielt; sogar eine Kopie soll noch existieren, die leider niemand restauriert.
III
Innerhalb der Branche bereits hoch angesehen, wurde Hildegard Knef einer
breiten Öffentlichkeit erst durch ihre Susanne Wallner in Wolfgang Staudtes
DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) bekannt. Der von der DEFA hergestellte
Prototyp aller Trümmerfilme etablierte sie als ersten großen Star
des deutschen Nachkriegskinos. Hier und in weiteren Produktionen verbreitete
sie Optimismus. Keinen billigen. Ihr Gesicht war von Erfahrungen gezeichnet,
aber sie ließ sich nicht unterkriegen, soviel stand für das Publikum
fest. Staudtes Film selbst ist eigentlich nur noch historisch von Bedeutung,
sein Stil-Mischmasch aus Expressionismus und Neorealismus irritiert, und das
unsympathische, pathetische Spiel von Wilhelm Borchert hätte sogar in
einem lauten NS-Propagandafilm störend gewirkt. Die Botschaft –
gegen individuelle Racheaktionen, für juristische Lösungen im Zusammenhang
mit aufgespürten Nazi-Verbrechern – geht somit etwas unter.
Es folgte einer ihrer meist verkannten Filme, Harald Brauns ZWISCHEN GESTERN
UND MORGEN (1947), der zwei Handlungsebenen enthält: In der Gegenwart
hilft Hildegard Knef als Kat dem gerade zurückgekehrten Emigranten Michael
Rott (Viktor de Kowa), in den Trümmern eines Hotels Beweise für
seine Unschuld zu finden. Er soll kurz vor seiner Emigration eine jüdische
Schauspielerin an die Gestapo verraten haben, um an ihren Schmuck zu kommen.
Die Rückblenden beschreiben, was vor Rotts Flucht wirklich geschah. Eine
wichtige Inspiration für Harald Braun und seinen Co-Autor Herbert Witt,
was den Schauplatz und die Konstruktion der Handlung angeht, war Vicki Baums
Roman „Menschen im Hotel“, von dem die Bestsellerautorin im US-Exil
eine bessere, politisch gehaltvolle Variante mit dem Titel „Hotel Berlin“
veröffentlicht hatte. An ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN haben verschiedene
Filmhistoriker bemängelt, Günstlinge des Dritten Reiches hätten
ganz dreist die Rollen von Widerstandskämpfern übernommen. Das stimmt
so nicht. Tatsächlich spielen Willy Birgel, Viktor Staal und Viktor de
Kowa sich selbst als passive Mitläufer, die merken, welche Verbrechen
um sie herum geschehen, die aber nichts unternehmen. Ganz offen bekennen sich
hier Stars des NS-Kinos zu ihrer Angst und ihrer Feigheit. Einer übernahm
sogar die Schurkenrolle, die seiner Biografie völlig widersprach: Otto
Wernicke, der seine halbe Familie in Auschwitz verloren hatte, spielte einen
Nazi, der die Jüdin Nelly Dreyfuß in den Tod treibt. Eine Frau
mit diesem Namen hatte sich in den dreißiger Jahren ein paar mal aus
Spaß als Sybille Schmitz aus- und Autogramme gegeben; es verstand sich
von selbst, dass ihre Rolle im Film nur von Sybille Schmitz gespielt werden
konnte, der sie verblüffend ähnelte. Carsta Löck, das süße
Mädel aus NS-Propagandastreifen wie U-BOOTE WESTWÄRTS (1941) und
KADETTEN (1939/41), wagte sich an die Rolle einer klatschsüchtigen Denunziantin.
Standen Schmitz & Co. für das Gestern, so verkörperte Hildegard
Knef eindeutig das Morgen. Zu dieser Zeit bewies sie bei der Wahl ihrer Rollen
eine goldene Hand, und ihr standen die besten Kräfte hinter der Kamera
zur Verfügung. Unter Helmut Käutners Oberleitung inszenierte das
Nachwuchstalent Rudolf Jugert die Zeitsatire FILM OHNE TITEL (1948), die von
der Unmöglichkeit handelt, im gegenwärtigen Deutschland einen Film
zu drehen. Wie ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN enthält auch FILM OHNE TITEL
Rückblenden, die im Nationalsozialismus angesiedelt sind. Für ihr
frisches, kraftvolles Spiel als Flüchtlingsmädchen Christine Fleming
wurde Knef in Locarno als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Die US-Kritikerin
Pauline Kael zeigte sich begeistert: „The star is Hildegarde Neff, the
hungry-voiced, alluringly sad-eyed actress who is more or less the female
equivalent of Curd Jurgens. (...) Made in the British zone in 1947, this film
is a rare bird – wit and nonchalance are scarcely what one expects from
a German film“. Zweifellos sind Witz und Nonchalance das letzte, was
man von einem deutschen Film erwartet, und dass FILM OHNE TITEL sich hierdurch
auszeichnet, ist sicher auch das Verdienst seiner Hauptdarstellerin.
Es folgte ein Hollywood-Intermezzo. Der ehemals große David O. Selznick
(KING KONG; GONE WITH THE WIND / VOM WINDE VERWEHT; REBECCA) nahm sie unter
seine Fittiche, konnte ihr aber keine Rollen anbieten. Die kostspieligen Versuche,
seine Frau Jennifer Jones zu einem Megastar zu machen, hatten ihn in den Ruin
getrieben. Ähnlich wie der bei Selznick unter Vertrag stehende Gregory
Peck wurde Hildegard Knef an Darryl F. Zanuck und dessen 20th Century-Fox
verkauft. So würdelos dieser „Sklavenhändlerdeal“ erscheinen
mag, Knef – oder Hildegarde Neff, wie sie für die Amerikaner hieß
– verdankte dieser Aktion einige ihrer besten Aufgaben.
Doch zunächst drehte sie in Deutschland den aufsehenerregendsten, am
besten besuchten und meist attackierten Film ihrer Laufbahn: DIE SÜNDERIN
(1951). Zu ihm hatte ihr Marlene Dietrich geraten, vielleicht, weil der Regisseur
Willi Forst ein ehemaliger Liebhaber war. Es ist Knefs meist unterschätzter
Film geblieben, wenngleich er ein paar Bewunderer gefunden hat. Joe Hembus
gehörte zu ihnen, und sogar der sittenstrenge „Evangelische Filmbeobachter“
ging ausführlich auf die ambitionierte Machart ein: „Wir legen
besonderen Wert darauf, die positive filmdramaturgische Leistung von Willi
Forst so deutlich herauszustellen, weil wir zu dem Inhalt seines Films ein
ebenso entschiedenes Nein sagen müssen“. Knef spielte eine Prostituierte,
Marina, die ihre Wirkung auf das männliche Geschlecht finanziell ausnutzt
und im beginnenden Wirtschaftswunder aufsteigt, bis sie sich in einen todkranken
Maler (Gustav Fröhlich) verliebt. Da sie sich ihm zuliebe gehen lässt
und nicht mehr so sehr an sich denkt, verliert sie ihr Geld und ihren Sex-Appeal;
dafür entdeckt sie ihr Herz und findet zu Gott. Am Ende leistet sie dem
Geliebten Sterbehilfe und begeht Selbstmord.
Eigentlich ein Stoff, der der Kirche hätte gefallen müssen. Die
Prostituierte wird zur bürgerlichen Hausfrau und stirbt für ihre
vergangenen Sünden. Die kurze Nacktszene, in der Marina ihrem Geliebten
Modell steht, ist zu undeutlich, um die Demonstrationen gegen Forsts Film
zu rechtfertigen. Die Sterbehilfe am Ende war sicher auch nur ein zusätzlicher
Vorwand, um DIE SÜNDERIN in Misskredit zu bringen. Nein, das eigentlich
Skandalöse dürfte das bei aller Intensität lockere, souveräne
Spiel der Knef gewesen sein. Statt DIE SÜNDERIN hätte der Film gut
DIE GESCHÄFTSFRAU heißen können, so sachlich geht Marina ihrer
Arbeit nach, und das nicht in einem exotischen Ausland, sondern in der Bundesrepublik
der Gegenwart. Sie stürzt niemanden ins Verderben, und sie bittet für
sich selbst nicht um Mitleid. Dramatische Situationen entstehen durch den
Gehirntumor des Malers, nicht durch die Prostitution. Alles andere als ein
„furchtbares Melodram“, wie Knef später in Interviews ständig
betonte, wirkt DIE SÜNDERIN wegen seiner Nüchternheit erstaunlich
modern. Der Drehbuchautor Gerhard Menzel scheint Virginia Woolfs Roman „Mrs.
Dalloway“ gelesen zu haben, denn er bedient sich nicht-chronologischer
Rückblenden und der „stream of consciousness“-Technik. Marina
betrachtet einen Gegenstand und erinnert sich daraufhin an einen Vorfall,
der mit diesem Gegenstand verknüpft war. Zum dritten Mal nach ZWISCHEN
GESTERN UND MORGEN und FILM OHNE TITEL erzählen die Rückblenden
mehr als nur eine individuelle Geschichte, sie erzählen auch die Geschichte
Deutschlands.
Marina ist eine Überlebenskünstlerin in bester Knef-Tradition. Dazu
gehört, dass sie keine Sentimentalität zulässt. Das machte
den Film für damalige Zuschauer so unmoralisch: Wenn sich eine Frau schon
prostituierte, dann sollte sie sich gefälligst auch schämen und
ausgiebig weinen. Das Fehlen einer übergeordneten moralischen Instanz
dürfte zur Empörung beigetragen haben: Kein väterlicher Erzähler,
sondern Marina selbst kommentiert das Geschehen. DIE SÜNDERIN ist ein
Stummfilm mit ausgiebigem Voice-Over-Kommentar von Marina; dies und die düsteren
Bilder des tschechischen Kameramannes Vaclav Vich verweisen auf klassische
Vorbilder des Film Noir. Der Komponist Theo Mackeben, in der Vergangenheit
verantwortlich für Ohrwürmer wie „So oder so ist das Leben“,
„Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami“ und „Nur nicht
aus Liebe weinen“, schrieb hier kurz vor seinem Tod eine sperrige, wenig
melodische Partitur.
Der Kolportage auf hohem Niveau folgte ein veritables Meisterwerk, Anatole
Litvaks DECISION BEFORE DAWN / ENTSCHEIDUNG VOR MORGENGRAUEN, über den
Versuch der Amerikaner, in den letzten Kriegstagen mit der innerdeutschen
Opposition zusammenzuarbeiten. Oskar Werner brilliert als übergelaufener
deutscher Sanitäter, der sich als US-Geheimagent einsetzen lässt
und zurück in die Höhle des Löwen, ins noch nicht befreite
Deutschland geht. Hier trifft er eine desillusionierte Hildegard Knef, die
völlig frei von Vamp-Allüren die gute Kameradin gibt. DECISION BEFORE
DAWN erhielt zwei Oscar-Nominierungen, darunter als bester Film des Jahres.
Es war, obwohl in Deutschland gedreht und stilistisch dem italienischen Neorealismus
verpflichtet, produktionstechnisch Hildegard Knefs erster Hollywoodfilm.
Von den im westdeutschen Kino aufkommenden eskapistischen Tendenzen blieb
sie unberührt. In Rudolf Jugerts realistischem Fernfahrerdrama NACHTS
AUF DEN STRASSEN (1952) verdreht sie als Anhalterin Inge Hoffmann dem guten
alten Hans Albers den Kopf und ist erneut ein Vamp aus wirtschaftlicher Not,
nicht triebbedingt. Henry Hathaway gab ihr in seinem Kalter-Kriegs-Spionagefilm
DIPLOMATIC COURIER / KURIER NACH TRIEST den Part der anständigen Janine
als Kontrast zur kommunistischen Spionin Joan (Patricia Neal), die den US-Agenten
Mike (Tyrone Power) in die Falle locken will. Zwischendurch weiß der
Zuschauer allerdings nicht so recht, welche der beiden Frauen die Gute ist,
und um diese Spannung zu halten, verfügten Knef und Neal über die
erforderliche ambivalente Ausstrahlung.
Noch mehr Frauen als Tyrone Power, nämlich drei, durfte Gregory Peck
als Schriftsteller und Safari-Liebhaber Harry in THE SNOWS OF KILIMANJARO
/ SCHNEE AM KILIMANDSCHARO in die Arme nehmen. Henry Kings freie Adaption
von Ernest Hemingways Novelle gab dem Publikum erstmals die Gelegenheit, Hildegard
Knef in Farbe zu sehen. Diesmal wieder richtig verrucht, wie zuletzt in SCHAUSPIELSCHULE:
Ihre Gräfin Liz ist eine verwöhnte junge Frau aus reichem Hause,
die an der französischen Riviera lebt; besitzergreifend, bisexuell, bildhauerisch
begabt und begabt als Sängerin; sie trägt in einem hautengen gelben
Abendkleid mit rauchiger Stimme Cole Porters „You Do Something For Me“
vor und tätschelt zwei lesbische Frauen. Briefe, die Harry von seiner
alten Liebe Cynthia (Ava Gardner) erhält, werden von Liz versteckt, was
irgendwann natürlich herauskommt. Leicht hätte aus dieser Figur
ein billiger Vamp werden können, keine Frau aus Fleisch und Blut wie
die resolute Helen von Susan Hayward oder die autodestruktiv-sinnliche Cynthia
von Ava Gardner. Doch Knef spielt ihre Rolle so sympathisch, dass man Liz
trotz ihrer Intrigen ins Herz schließen kann. Für die 20th Century-Fox
war THE SNOWS OF KILIMANJARO die erfolgreichste Produktion des Jahres; der
Kameramann und das Ausstattungsteam erhielten Oscar-Nominierungen.
Keinen ihrer Hollywoodfilme musste Hildegard Knef allein tragen, immer war
sie Teil eines Star-Ensembles; das schützte sie vor dem großen
Reinfall und verhinderte, dass sie ganz an die Spitze geriet. Dafür durfte
sie in Deutschland ihre Filme dominieren. Ihr alter Förderer Arthur Maria
Rabenalt gab ihr die Titelrolle der ALRAUNE, mit der bereits Brigitte Helm
in einem bemerkenswerten Stumm- (1927) und einem miserablen Tonfilm (1930)
das Publikum fasziniert hatte. Alraune ist durch künstliche Befruchtung
zustande gekommen, ihr Vater war ein gehängter Mörder und ihre Mutter
eine Dirne. (Aufmerksame Zuschauer können feststellen, dass die Befruchtung
eher natürlich vollzogen worden ist: In der Nacht vor seiner Hinrichtung
durfte der Mörder die Prostituierte in seiner Zelle empfangen.) Alraune
bringt allen Menschen Unglück, bis sie sich verliebt und bei einem Fluchtversuch
von ihrem Schöpfer ten Brinken (Erich von Stroheim) erschossen wird.
Dass das Publikum diemal nicht empört aufschrie, weil die Knef sündigte,
mag am bewusst unrealistischen Schauplatz gelegen haben. Zwar spielt die Handlung
in der Gegenwart, doch die starken Schwarzweißkontraste des Kameramanns
Friedel Behn-Grund, manchmal ganz ohne Grautöne, steigern den Film ins
Phantastische. Dafür ist Hildegard Knef ein sehr irdischer Vamp mit vielen
Facetten. Sie, die bisher von Film zu Film Vielseitigkeit bewies, beweist
erstmals Vielseitigkeit innerhalb einer Rolle. Rabenalt schuf mit ALRAUNE
die definitive Version des Stoffes, voller Phantasie, Charme und emotionaler
Komplexität, ein vorzügliches Stück „German Gothic“.
Zu selten waren Hildegard Knef charismatische Partner wie Erich von Stroheim
vergönnt, zu selten hatte sie überragende Kostümdesigner wie
Herbert Ploberger zu ihren Diensten. Ihre blonde Mähne sah nie so voll
aus wie hier; sie durfte ihre Gouvernante (Denise Vernac) verführen und
in den Armen von Karlheinz Böhm eine erschütternde Sterbeszene spielen.
Man spürt auch Rabenalts Erfahrung beim Kabarett und seine Lust am Obszönen;
hierbei unterstützt ihn mit vollen Kräften die ehemalige Heinrich
Mann-Geliebte Trude Hesterberg als einstiges „Schankmädchen“,
das zur Baronin und Förderin des perversen Wissenschaftlers ten Brinken
aufgestiegen ist. Zweimal ist ALRAUNE jüngst auf der Berlinale gelaufen,
in einer Stroheim-Retrospektive und in einer Reihe „Künstliche
Menschen“; das Publikum ging jeweils ergriffen mit.
Keinen deutschen Verleih hat Roy Bakers NIGHT WITHOUT SLEEP gefunden, eine
Schwarzweiß-Krimiversion von THE SNOWS OF KILIMANJARO, in der sich abermals
ein Mann, diesmal ein Komponist (Gary Merrill), an die drei Frauen seines
Lebens erinnert. Allerdings hat er einen Blackout und glaubt, eine von ihnen
umgebracht zu haben. Zu wahr: Seine zänkische Ehefrau (June Vincent)
wird am Ende tot aufgefunden; bei den anderen Damen handelt es sich um seine
Geliebte (Knef) und die beste Freundin (Linda Darnell). Julien Duvivier engagierte
Hildegard Knef für ihre erste Rolle in einer französischen Produktion,
die ähnlich wie FILM OHNE TITEL eine Innenansicht der Traumfabrik liefert
und die Schwierigkeiten des kreativen Prozesses behandelt: In LA FÊTE
À HENRIETTE / AUF DEN STRASSEN VON PARIS suchen zwei Drehbuchautoren
verzweifelt nach Ideen und lassen sich unter anderem von der verruchten Kunstreiterin
Rita Solar inspirieren. Knefs Auftritte in einem gewagten durchsichtigen Kostüm,
das sie auch mal kurz ablegt, sind anrüchiger als alles aus der SÜNDERIN,
doch das deutsche Publikum sah darüber hinweg, weil es sich um einen
französischen Import handelte.
Zwischendurch war sie mal wieder brav, ohne deshalb zu langweilen, und spielte
unter Rudolf Jugerts Regie in ILLUSION IM MOLL eine todkranke junge Frau ohne
seelische Abgründe. In dem britischen Kalter-Kriegs-Thriller THE MAN
BETWEEN / GEFÄHRLICHER URLAUB (1953) von Carol Reed gab sie an der Seite
von James Mason die zwielichtige Frau; anständig war die dunkelhaarige
Claire Bloom. Mit diesem respektablen Versuch, an den Erfolg von Reeds THE
THIRD MAN / DER DRITTE MANN anzuknüpfen, endete Hildegard Knefs „goldenes
Zeitalter“ als Kinostar. Von 1946 bis 1953 hatte sie eine phantastische
Filmographie vorzuweisen. Danach drehte sie in Deutschland und England noch
ein paar ordentliche Filme, bevor sie 1954 ihr Broadway-Debüt gab, als
Ninotschka in Cole Porters Musical „Silk Stockings“.
IV
Erst 1958 kehrte Hildegard Knef auf die Leinwand zurück. Sie erlebte
ein enttäuschendes Wiedersehen mit Wolfgang Staudte, dessen MADELEINE
UND DER LEGIONÄR (1958) halbherzig zum Algerienkrieg Stellung nahm. Dass
sie statt ihrer langen blonden Mähne eine Kurzhaarfrisur trug, mag das
Publikum zusätzlich vergrault haben. Sie wirkte verloren in einem robusten
Männerfilm, den sie nur gedreht hatte, weil sie dem Regisseur vertraute.
Staudte brachte ihr auch weiterhin nicht viel Glück: In seiner missratenen
DREIGROSCHENOPER (1963) konnte sie immerhin als Seeräuber-Jenny Kurt
Weill-Lieder singen und so ihr Repertoire erweitern.
Ein paar Treffer landete sie zwischendurch. Josef von Bakys zeitkritisches
Drama DER MANN, DER SICH VERKAUFTE (1959) wandte sich gegen den Sensationsjournalismus
und sprach Knef, die selbst in den letzten Jahren keine gute Presse in Deutschland
hatte, aus der Seele. Sie erhielt zu ihrer Überraschung den deutschen
Filmpreis als beste Nebendarstellerin. Viel zu tun hatte sie nicht, eigentlich
war sie nur die Freundin eines der Hauptakteure, die neben ihm herläuft.
Doch gerade in passiven Rollen bewährt sich der große Star. Knef
musste nicht viel tun, um aufzufallen, und auch bloße Starpräsenz
verdient Preise. Fürs Fernsehen sprach sie Jean Cocteaus Monolog DIE
GELIEBTE STIMME (1960), in Italien trat sie (nicht zum ersten Mal) in die
Fußstapfen ihrer mütterlichen Freundin Marlene Dietrich und spielte
CATERINA DI RUSSIA (1962) in der relativ besten ihrer internationalen Großproduktionen.
Sie übernahm Barbara Stanwycks alte Rolle in dem Boxerdrama GOLDEN BOY
(1961) an der Seite von Klaus Kammer und trat in einigen gelungenen Genrefilmen
wie Alfred Vohrers WARTEZIMMER ZUM JENSEITS (1964) und Michael Carreras’
THE LOST CONTINENT / BESTIEN LAUERN VOR CARACAS (1968) auf. Sie war international
gefragt, spielte in Italien, Frankreich und England; ihre Memoiren „Der
geschenkte Gaul“ wurden vom zweiten Ehemann David Cameron vorzüglich
ins Englische übersetzt („The Gift Horse“) und kamen auch
in den USA gut an. Auf dem Buchcover stand nicht Hildegarde Neff, sondern
Hildegard Knef. Damit hatten sich Englisch sprechende Leser abzufinden.
Im Verlauf von fünfzig Jahren ist Hildegard Knef selbstverständlich
auch in einige schwache Filme hineingeraten, wobei der schlechte Ruf von Willi
Forsts musikalischer Komödie ES GESCHEHEN NOCH WUNDER (1951) zu überprüfen
wäre; kein lebender Zeitgenosse scheint ihn zu kennen. Claude Chabrols
LANDRU (1962), ein Remake von Chaplins MONSIEUR VERDOUX, hinterlässt
einen ebenso traurigen Eindruck wie LAURA (1962), das Fernsehremake von Otto
Premingers gleichnamigem Film-Noir-Klassiker. Ein Fall für sich ist Alfred
Vohrers JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN (1976) nach dem Roman von Hans Fallada.
Knef und Carl Raddatz bieten ergreifende Leistungen als kleinbürgerliches
deutsches Ehepaar Quangel, das nach dem Tod des Sohnes an der Front anonyme
pazifistische Briefe schreibt. Am Ende werden sie ertappt, vom Volksgerichtshof
zum Tode verurteilt und hingerichtet. Um das Paar Knef-Raddatz herum wütet
der Dilettantismus. Der Komponist Gerhard Heinz hatte zuvor die Musik zu AUCH
FUMMELN WILL GELERNT SEIN und BOHR WEITER, KUMPEL geschrieben, das merkt man
der Partitur an. Zudem werden Widerstandskämpfer wie schmierige Mafiosi
dargestellt. Vohrer duldet nur die zaghaften Aktionen des Ehepaars Quangel;
alles, was nach bewaffnetem Widerstand aussieht, scheint er zu verachten.
Dem grandiosen Auftritt in einem schwachen Film folgte ein blasser Auftritt
in einem guten Film. Billy Wilders FEDORA (1977), Marlene Dietrich angeboten
und von dieser empört abgelehnt, handelt von einer scheinbar alterslosen
Diva, deren Rolle in Wirklichkeit von ihrer Tochter weitergespielt wird, während
das Original im Hintergrund die Fäden zieht. Viel zu sehen gab es von
Hildegard Knef nicht, die alt geschminkt im Rollstuhl sitzen musste. Marthe
Keller spielte sowohl die echte Fedora als junge Frau als auch deren Tochter.
Aber wenigstens durfte Knef, so ausgiebig wie in der SÜNDERIN, einen
Großteil des Films kommentieren. Sie schrieb sogar ein Remake: In ihrem
vermeintlichen Tatsachenroman „Romy. Betrachtung eines Lebens“
(1983) wird die arme kleine Romy Schneider von ihrer bösen Mutter Magda
genauso erbarmungslos vereinnahmt und durch die Gegend gehetzt wie die falsche
Fedora in Wilders Film von der echten.
Eine ihrer größten Bewunderinnen, Helma Sanders-Brahms, schrieb
ihr für FLÜGEL UND FESSELN (1984) eine Rolle auf den Leib. Die Darstellung
einer sybiotischen Mutter-Tochter-Beziehung (mit Brigitte Fossey als Tochter)
war solides Anspruchskino, doch Knefs letzter richtiger Starauftritt fand
in einem unbestrittenen Schundfilm statt, Martin Newlins WITCHCRAFT –
DAS BÖSE LEBT (1988). Man mag entsetzt darüber sein, dass eine Frau,
die an der Seite von Oskar Werner und Erich von Stroheim gespielt hatte, jetzt
zusammen mit Linda Blair und David Hasselhoff auftrat. Doch gerade wegen des
geringen Anspruchs scheint sich Knef in ihrer Rolle als glamouröse Hexe
wohl gefühlt zu haben. Nur für Schadenfrohe zu empfehlen ist dagegen
Günter Gräwerts Fernsehfilm DER GÄRTNER VON TOULOUSE (1982)
nach dem Stück von Georg Kaiser. Hier zeigt sich Hildegard Knef zum ersten
Mal seit ihrem Face-Lifting, und in den Großaufnahmen sieht man, wie
bei jeder Mundbewegung völlig unkontrolliert ihre Stirn zuckt. Ihre Verführung
des jungen Gärtners (Nena-Lover Benedict Freitag) wirkt fast so gruselig
wie Mae Wests „Einstellungstest“ mit dem 53 Jahre jüngeren
Tom Selleck in MYRA BRECKINRIDGE. Als der knackige Gärtner auf ihren
Befehl hin Heu aus einer dunklen Kammer herbeiträgt, steht die Herrin
plötzlich in der Tür und sagt: „Lass noch etwas Heu da –
für uns beide!“
Bei allem Unbehagen: Sehenswert sind auch solche kleineren Knef-Filme. Die
meisten großen Stars waren besser als ihr Material und haben deswegen
um so mehr gestrahlt. Man kann Hildegard Knef wegen ihrer gesundheitlichen
Probleme bedauern. Als Künstlerin hat sie kein Mitleid nötig.