Der Traum von einer besseren Welt

"Hamlet" des Musicals: "Hair" lässt Flower Power, Love & Peace im Admiralspalast wieder auferstehen

von Marc Hairapetian

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"Die Weißen schicken die Schwarzen in den Krieg gegen die Gelben, um das Land zu verteidigen, dass sie den Roten gestohlen haben!", heißt es - in der deutschen Übersetzung - an einer Stelle von "Hair". "Showservice"-Produzent Frank Serr, der mit einem jungen Ensemble seiner International Broadway Musical Company New York den ewig jung gebliebenen Klassiker auf einer großen Europa-Tournee wieder auf die Bühnen bringt, zitiert im Gespräch diesen Satz mit Nachdruck, um Aktualität und Zeitlosigkeit des "American Tribal Love/Rock Musicals" zu unterstreichen. In der Tat geht es im Singspiel der ganz besonderen Art, dass 1967 seine Vor-Premiere am Off-Broadway im Joseph Papp´s Public Theater feierte und dann ein Jahr später durch "Hippie-Millionär" Michael Butler ans Biltmore Theater an den Broadway gebracht wurde und von dort seinen Siegeszug rund um die Welt antrat, um mehr als lange Haare, freie Liebe und Drogenkonsum.

Größere Ansicht anzeigen Jackie Nguyen (Angela) & SPIRIT HAIRapetian. She was also "Miss Saigon"! (Berlin, March 8, 2016, photo by Heiko Lehmann for www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de)

 "Hair" ist auch am Beispiel des Vietnam-Kriegs eine Anklage gegen alle Kriege. Die in die von Gregorianischen Chorälen, afrikanischen Rhythmen, Rockabilly und Folk Pop inspirierte Musik des mittlerweile 87-jährigen Komponisten Galt Macdermot eingebetteten Texte von James Rado und dem 1991 verstorbenen Gerome Bernard Ragni haben Shakespearsche Tiefe. Nicht umsonst ertönt es im Abschlusslied "The Flash Failures/Let the Sunshine In" wie im "Hamlet": "The rest is silence - Der Rest ist Schweigen". Im Admiralspalast war am Dienstagabend beim Auftakt des Berliner Gastspiels der Rest vor allem euphorischer Applaus.
 "Hair" ist vielleicht das beste amerikanische Musical aller Zeiten, aber auf jeden Fall dasjenige mit der größten Hit-Dichte. Jeder Song der 44 Titel ist ein Treffer mit politischem oder persönlichem Statement! Eine herkömmliche Handlung wie in der Oper beziehungsweise Operette gibt es nicht. Dennoch kristallisiert sich anhand der Sketche und Lieder (es vergehen fast 40 Minuten, bis der erste Dialog gesprochen wird) eine Geschichte heraus: Eine Gruppe langhaariger Hippies lebt in New York und hat mit dem sogenannten "Establishment" wenig am Hut. Der vom Land hinzugestoßene Claude Hooper Bukowski (Glen North), die junge Sheila (Jessica J. Dyer) und ihr charismatischer Zimmergenosse George Berger (Brett Travis) leben in einer Dreiecksbeziehung lustvoll, aber ziellos in den Tag hinein. Claude ist hin und her gerissen zwischen den patriotischen Impulsen seiner bürgerlichen Herkunft und den im Kreise seiner neuen Freunde erstarkten pazifistischen Idealen. Mit dem Eintreffen des Einberufungsbescheids muss er sich entscheiden, ob er wie die anderen den Kriegsdienst verweigern (und damit eine gesellschaftliche Ächtung plus Gefängnisstrafe in Kauf nehmen) oder sich der militärischen Autorität unterwerfen, Menschen töten und sein Leben in Vietnam riskieren soll.

Größere Ansicht anzeigen Brett Travis (Berger), Glen North (Claude), Jessica J. Dyer (Sheila) & Shannon Dione on stage (Berlin, March 8, 2016, photo by Heiko Lehmann for www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de)

 In der Inszenierung von Andrew Carn, der selbst viele Jahre das Enfant-terrible Berger auf Tournee spielte, bezieht das Ensemble das Publikum bereits vor (!) Vorstellungsbeginn direkt mit ins Geschehen ein. Man mischt sich unter die Gäste im Zuschauersaal, posiert für gemeinsame Fotos und gibt Slogans wie "Make Love Not War!" von sich. Der eigentliche Auftakt mit "Aquarius", stimmgewaltig und sehr soulig von Shannon Dionne vorgetragen, läutet das von Astrologie und Esoterik bezeichnete neue "Zeitalter des Wassermanns" ein, dem das 16-köpfige Ensemble wie in einer Art Gruppenritus huldigt, während die aus fünf Musikern bestehende Band um den an den Keyboards sitzenden Musical Director Pete Lee, der bereits mit Shirley Bassey und Charles Aznavour rund um den Globus tourte, kraftvoll aufspielt. Die Kostüme der allesamt mit Handmikrophonen ausgestatteten singenden Darsteller sind farbenfroh und haben einen Second-Hand-Look. Dazu passt die Aussage von Regisseur Andrew Carn: "An den Hippies interessiert mich bis heute mehr als die Mode ihre Ideologie mit dem Eintreten für Frieden, Respekt und Spiritualität." Das Bühnenbild dagegen ist bewusst auf überdimensionale Peace-Symbole und Transparente ("Stop the War in Vietnam!") reduziert.

Größere Ansicht anzeigen SPIRIT HAIRapetian & producer Frank Serr (Berlin, March 8, 2016, photo by Heiko Lehmann for www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de)

 Alle Mitglieder der Broadway Musical Company, darunter eine Deutsche (Nadine Kühn) und auch eine Vietnamesin (Jackie Nguyen), sind talentierte Performer. Herausragend der bei aller Unverbrauchtheit nachdenklich wirkende Glen North als bisexueller Claude, der das lebensbejahende "I Got Life" und das philosophische "Where Do I Go?" vorträgt. Ebenso das laut Interview "echte Hippie-Kind" Brett Travis, der den Berger als US-Eulenspiegel gibt und im Gegensatz zu Reiner Schöne in der an sich exzellenten deutschen Original-Besetzung von 1968 mit Bernd Redecker, Ron Williams, Su Kramer und Donna Gaines (der späteren Donna Summer) nicht mit Perücke, sondern echter Lockenpracht verkörpert. Der Höhepunkt unter zahlreichen Highlights vor der Pause ist das von Elizabeth Wyld mit anrührender Zartheit vorgetragene Liebeslied "Frank Mills".
 Im zweiten Teil klatscht der ganze Saal bei der Gute-Laune-Hymne "Good Morning Starshine" im Takt mit. Kollektive Betroffenheit dagegen bei der vom Chor traurig-trotzig intonierten Schlussnummer "The Flesh Failures (Let The Sunshine In)", wenn Claude doch gegen seine innere Überzeugung in den Krieg gezogen ist und in Vietnam fällt. Bei den Zugaben gibt es dann kein Halten mehr: Das Ensemble entführt Teile des Publikums auf die Bühne. Eine rüstige Mitsiebzigerin, die früher bestimmt selbst mal ein Blumenkind gewesen sein muss, tanzt ausgelassen mit dem Cast. Der Traum von einer besseren Welt: An diesem betörenden Abend im Admiralspalast war er zum Greifen nah!

"Hair" läuft noch bis 13. März 2016 jeden Abend im Berliner Admiralspalast. Die Europa-Tournee läuft noch bis zum 6. Juni 2016.
www.showservice-international.de/de/produktionen/musicalhair/

Marc Hairapetian am 9. März 2016 für SPIRIT EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de

The "Hamlet" of Musicals: SPIRIT HAIRapetian meets "Hair" Broadway Musical Company New York

Größere Ansicht anzeigen Shannon Dionne as Dionne (sic!) with "Hair" tribe singing "Aquarius" (Berlin, March 8, 2016, photo by Heiko Lehmann for www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de)