„Es würde mich langweilen, einen Charakter 20 Jahre zu spielen.“

Interview mit der Schauspielerin Jutta Speidel über ihre Bekanntschaft mit dem „Kannibalen von Rohtenburg“, das deutsche TV-System, ihren Lieblingsregisseur Rainer Erler und verpasste Chancen

Jutta Speidel, geboren am 26. März 1954 in München, kann auf eine bewegte Karriere zurückblicken: So wirkte sie in harmlosen Lustspielen wie „Die Lümmel auf der letzten Bank“ oder dem heute eher unfreiwillig komischen als erotischen „Schulmädchenreport“ genauso mit wie in kontrovers diskutierten Fernsehklassikern („Die letzten Ferien“, „Fleisch“) und amüsant-anspruchsvollen Unterhaltungsserien wie „Drei sind einer zuviel“ und „Um Himmels Willen“. Die zweifache Mutter und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes gründete 1997 die Initiative HORIZONT e. V. für obdachlose Kinder. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung setzt sie sich kritisch mit der heutigen TV-Landschaft auseinander.

Von Marc Hairapetian

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Jutta Speidel (liest das Credo von Oskar Werner, das auf dem SPIRIT-Cover der 17. Edition steht): „Zwei Luxusartikel habe ich mir immer geleistet: Zeit und Charakter.“ Das kann ich nur unterschreiben, bzw. „Zeit“ kann ich leider nicht unterschreiben. Aber es war ja auch eine andere Zeit, in der er das gesagt hat.

Marc Hairapetian: Sind Sie ihm einmal persönlich begegnet?

Speidel: Ja, als ganz junges Mädchen in den 1970er Jahren in Berlin. Da sah ich ihn auf der Straße und habe ganz ehrfürchtig „Grüß Gott!“ zu ihm gesagt.

Frau Speidel, was machen Sie nach ihrem Ausstieg bei „Um Himmels Willen“ zurzeit beruflich?

 

Speidel: Ich bin bei den Vorbereitungen für eine mehrmonatige Reise, die mich nach Italien führt, wo ich einen Krimi drehe. Doch in Gedanken bin ich noch bei meiner alten Fernsehserie „Drei sind einer zuviel“, die jetzt komplett auf DVD herauskommt. Wir haben das Making Off vor wenigen Wochen gemacht. Da haben wir drei – Herbert Hermann, Thomas Fritsch und ich – uns getroffen in einem Studio, die die DVD mit einem Audiokommentar von uns beliefern. Wir sollten für eine Stunde dort hingehen, um einen einstündigen Kommentar zu den ersten zwei Folgen abzugeben. Wir sind erst nach sechs Stunden erst herausgegangen, weil wir uns die ganze Serie noch mal angesehen haben. Sie  ist einfach hinreißend! Wenn Sie die jetzt sehen, ist sie noch viel besser als damals.

 

Ihr endgültiger schauspielerischer Durchbruch war 1978 der in den USA gedrehte  TV-Film „Fleisch“, indem ihr von Herbert Hermann gespielter Gatte auf der durch New Mexiko führenden Hochzeitsreise von Organhändlern nach New York verschleppt wird.  Haben Sie noch Kontakt zu Regisseur Rainer Erler, der das Genre des Ökologie-Science-fiction-Thrillers erfand?


Speidel: Ich habe ihn gerade wieder gesehen. Er hat meine Tochter, die für ein halbes Jahr in Australien war, für zehn Tage in Perth beherbergt, und da bin ich bei ihrer letzten Station auf dem fünften Kontinent einfach dazu gestoßen. Rainer und ich sind in sehr gutem Kontakt, und ich bin sehr traurig darüber, dass er nichts mehr macht.

Woran liegt es?

Speidel: Er hat schon versucht, noch mal Produktionen auf die Beine zu stellen. Doch er lebt in Australien und scheitert am deutschen System. Das hat sich wahnsinnig verändert in den letzten Jahren, und die Filme, die er machen würde, wären im Verhältnis zu damals ungleich teurer. Er hat ja immer sehr anspruchsvolle Themen abgehandelt. Zwei Projekte, die ihm sehr am Herzen lagen, musste er jetzt endgültig begraben. Sie hatten wieder diese wissenschaftliche Ebene, die ihn ausgezeichnet hat, doch sie waren einfach nicht zu finanzieren. Schade, weil Rainer Erler ein Mann ist, der nach wie vor unglaublich viel zu sagen hat.

Ist Ihnen das damals auch schon bewusst gewesen, dass sie mit einem TV-Visionär zusammen arbeiten?

Speidel: Ja, ich kannte ihn doch schon vorher. Vor „Fleisch“ machten wir noch zwei andere Filme. „Die letzten Ferien“ mit Dieter Laser in der anderen Hauptrolle finde ich persönlich noch besser als „Fleisch“. Das ist die Geschichte eines jungen Mädchens, die bei ihrem Stiefvater aufgewachsen ist und das Erbe ihres leiblichen Vaters angetreten hat. Auf einem kleinen Boot soll sie während einer Seereise umgebracht werden. „Die Quelle“, meine zweite

Zusammenarbeit mit Rainer Erler, wurde auch auf Lanzarote gedreht. Herbert Hermann, mit dem ich damals auch privat liiert war, wirkte ebenfalls mit. „Fleisch“ war dann die dritte Kooperation, einen vierten Film, den Rainer für mich geschrieben hatte, konnte ich nicht machen, weil ich da meine erste Tochter erwartete. Doch „Das schöne Ende dieser Erde“, der erste Film, den er in Australien gedreht hat, kam auch ohne mich zustande.

Warum hat Erler eine so große Affinität zu Australien?

Speidel: Der Rainer Erler ist ein Hypochonder. Er suchte damals schon ganz klar nach einem Ort auf dieser Erde, wo er keinem Atomkrieg ausgesetzt sein werde. Und dann ist er ausgerechnet in das Ozonloch Australien gezogen… (lacht).

Ist „Fleisch“ mit seinem Thema Organraub für sie heute noch aktuell?

Speidel: Leider Gottes ja. Vor kurzem – so musste ich in einem Artikel lesen - haben sie in einer Republik des ehemaligen Jugoslawiens zwei Frauen am Straßenrand gefunden, die total ausgeweidet waren. Ich denke, solche Verbrechen passieren häufiger, und man weiß einfach viel zu wenig davon.

Wie waren die Reaktionen damals auf „Fleisch“?

Speidel: Mildred Scheel, die Gattin des Bundespräsidenten, versuchte diesen Film zu verbieten. Und das war für uns die größte Promotion überhaupt, gerade weil sie sich so vehement dafür stark gemacht hatte, „Fleisch“ nicht im TV und auch nicht im Kino zu zeigen, weil – ich zitiere – „er eine Utopie darstellen würde, die niemals Realität werden darf.“

 Heute gibt es ein anderes Beispiel mit dem Film „Rohtenburg“, in dem Thomas Kretschmann den „Kannibalen“ Armin Meiwes spielte. Meiwes verhinderte per Einstweiliger Verfügung den Kinostart.

Speidel: Unser Film war damals noch Fiktion, der nicht nach einem konkreten Fall gedreht wurde. Die Tat von Meiwes ist blutige Wahrheit. Das ist schon noch ein großer Unterschied.

Würden Sie sich einen Film wie „Rohtenburg“ ansehen?

Speidel: Merkwürdig, dass sie mich das fragen. Ich muss ihnen jetzt eine ganz komische Geschichte erzählen. Ich kenne den Mann, diesen Armin Meiwes. Wir haben unser Forsthaus nur zwei Kilometer von dem Anwesen, wo er früher mit seiner Mutter wohnte und nach deren Tod er dieses schreckliche Verbrechen begangen hat. Wir haben ihn früher sehr oft gesehen. Ich muss mir diesen Film nicht angucken. Ich kenne auch seinen Anwalt; das ist auch mein Anwalt.

Was hatten Sie für einen Eindruck von Meiwes, bevor Sie von seiner Tat wussten?

Speidel: Dieses kleine Mündershausen bzw. Rotenburg, wo er wohnte, bestand nur aus vier Häusern. Das eine Haus gehört Freunden und ist an der Straße gelegen, mit vielen Pferdekoppeln außen rum. In dieser Ecke macht jeder jede Woche irgendein Zeltfest. Da wird gebacken und gekocht, und man sitzt auf einer langen Bank zusammen. Und so kenne ich auch Armin Meiwes. Mein Ex-Mann ist sogar mit ihm in die Schule gegangen. Meiwes ist ein ganz unscheinbarer, einfacher, biederer Bürger gewesen. Nachdem hast du dich nicht umgedreht. Er lebte da mit seiner Mutter in einem sehr schönen Fachwerkhaus. Ganz idyllisch. Doch es gab noch ein anderes kleines Haus – und da wohnte für uns die Hexe drin! Eine Frau, die in einer Art Kommune lebte und wo immer ganz merkwürdige Gestalten ein und ausgingen. Die waren für uns viel interessanter, als er mit seiner Mama…

 Ist das ein Schock für Sie, dass Ihr Anwalt Meiwes verteidigt?

Speidel: Als Ärmelchen das übernommen hat, bin ich ein bisschen erschrocken, weil ich mir dachte: Hast du das nötig? Muss ich nicht einen ganz großen Anteil an Perversität in mir tragen, dass ich das anwaltlich vertreten will? Auf der anderen Seite ist auch ganz klar: Das ist eine Riesenchance für ihn gewesen, über die Medien populär zu werden. Ich weiß nicht wirklich, wie er dazu steht. Ich weiß da nur mehr über meinen Ex-Mann, dass es auch für meinen Anwalt sehr schwierig war, Meiwes zu vertreten. Die waren schon vorher miteinander bekannt. Man kennt sich halt dort im Knüllwald…

Wenn man ihre Karriere Revue passieren lässt, ist die Qualität der Filme sehr unterschiedlich. Lustspiele wechseln sich mit anspruchsvollen Filmen und Vorabendunterhaltung wie  „Forsthaus Falkenau“ ab. Allzu lange sind sie aber nie bei einer Serie geblieben, auch nicht bei „Um Himmels Willen“, wo sie als Schwester Lotte einen großen Erfolg hatten.

Speidel: Bei diesen Serien ist immer nur das erste Jahr interessant. Da ist Plot noch gut. So war es mit meiner Rolle einer Frau, die aus dem Knast kam, bei „Alle meine Töchter“. Genauso wie die Baroness in „Forsthaus Falkenau“, das war doch eine völlig schräge Figur! Oder die Lotte in „Um Himmels Willen“. Doch irgendwann verläppert sich das – und dann muss man gehen. Und genau, das habe ich in allen drei Fällen gemacht.

Haben Sie mit Ihren Kollegen wie Christian Wolff oder Fritz Wepper darüber gesprochen?

Speidel: Ja, da ist natürlich ein großes Unverständnis auf der anderen Seite. „Warum musst Du jetzt gerade gehen? Ich bleibe.“, sagten sie mir. Das muss jeder für sich selbst verantworten. Ich bin ein Mensch, der immer gerne aufbricht. Ich kann in beruflichen Dingen gut los lassen. Andere haben ein Sicherheitsdenken wie Christian Wolff oder Fritz Wepper, der über 20 Jahre „Derrick“ machte. Im Traum würde ich so was nie durchhalten, da könnten die Bedingungen noch so toll sein. Es würde mich langweilen, einen Charakter 20 Jahre zu spielen. Doch Fritz, den ich sehr mag, ist eben ein völlig anderer Mensch wie ich.

Gibt es Dinge, die sie in ihrer Karriere vermisst haben?

 Speidel: Man darf nicht zurückblicken und sagen: Das habe ich verpasst. Ich habe sicherlich einiges verpasst, weil ich in gewissen Momenten, nicht die richtige Unterstützung hatte, zum Beispiel einen guten Agenten. Ich habe mit Sean Penn und Martin Sheen einen Film gedreht: „Judgment in Berlin“, auf Deutsch „Ein Richter in Berlin“. Er wurde ein Rundumflop, nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. Dennoch war es eine große Chance. Ich spielte eine der Hauptrollen. Es war eine Tatsachengeschichte, über zwei jungen Menschen, die mit ihrer Tochter aus Ostberlin flohen und mittels einer Spielzeugpistole ein Flugzeug kidnappten. Im amerikanischen Sektor landeten sie dann und kamen vor ein US-Trial. Mein Agent, der legendäre Paul Cohner, starb nach Beendigung der Dreharbeiten. Seine Nachkommen sagten zu mir: „Wenn du nicht hier her ziehst, können wir nichts für dich tun.“ Doch ich musste in Deutschland eine ganze Saison am Theater „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ spielen und zusätzlich meine kleinen Kinder versorgen. Doch das interessierte in Hollywood niemanden. Erst nach fünf Monaten fuhr ich wieder hin - und hatte den Anschluss verloren.

Dafür drehten Sie hierzulande viele unvergessene Fernsehspiele wie „Dannys Traum“ oder „Fleisch“. Vermissen Sie diese lang gehegte Kultur im öffentlich-rechtlichen Bereich?

 

Speidel: Ja und nein. Früher wurde sorgfältiger gearbeitet, und die Themen waren provokanter. Doch ich mache auch jetzt noch ab und an schöne Fernsehspiele, leider haben sie fast alle so doofe Titel, dass ich sie andauernd verwechsele. Wie kann man nur einen Film „Ein Stück vom Glück“ nennen? Ich bin froh, dass meine neueste NDR-Produktion, die noch in diesem Jahr ausgestrahlt werden soll, „Meine Mutter tanzend“ heißt. Hier spiele ich eine vom Leben frustrierte, dennoch aber irgendwie flippige Supermarktkassiererin, die einst ihre Mischlingstochter weggeben hat und diese erst richtig kennen lernt, als sie erwachsen geworden ist. Die wunderbare Dennenesch Zoude ist meine Kopartnerin. Im Juni erhielt „Meine Mutter tanzend“ beim Filmfestival in Emden viel Lob. Doch klar, ich würde auch gerne mal in einer Weltliteratur-Adaption mitwirken. Doch die Zeiten, als das ZDF noch „Der Seewolf“, „Lockruf des Goldes“ oder „Die Lederstrumpf-Erzählungen“ drehte, sind leider vorbei.

 

Was sind Ihrer Ansicht nach dafür die Gründe?

 

Speidel: Deutschland kopiert zu sehr andere Länder, vor allem Amerika. Das finde ich furchtbar. Ich sollte in einer deutschen Sitcom nach kanadischem Muster mitwirken. Da wurden die Jokes eins zu eins übersetzt, weswegen ich dankend verzichtete. Auch Telenovelas können hierzulande nicht der richtige Weg sein. Zum Glück werden sie alle sehr bald baden gehen, und es bleibt die Hoffnung, dass sich irgendwann wieder mehr Qualität durchsetzt.

 

Das Gespräch führte Marc Hairapetian am 11. Juni 2006 in Emden.