Erneuerung und Befreiung

Exklusives Interview mit der Schauspielerin und Sängerin Hanna Schygulla

Von Marc Hairapetian

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Marc Hairapetian:
Frau Schygulla, in den 70er und 80er Jahren wurden Sie im Ausland als „Nachfolgerin der Dietrich“ gefeiert. Dann wurde es eine Zeit lang ruhiger um Sie. Seit vergangenem Jahr sind Sie durch Fatih Akims „Auf der anderen Seite“ wieder mehr im Blickfeld des öffentlichen Bewusstseins. Mussten Sie sich vorher von der Ära Fassbinder lösen, um sich zu emanzipieren? Oder hatte Sie die Pflege Ihrer kranken Eltern derart in Anspruch genommen, dass zu wenig Zeit für den Filmstar Hanna Schygulla blieb?

Hanna Schygulla:
Ich war ja auch nach Fassbinders Tod im europäischen Kino präsent, in Filmen mit Godard, Wajda, Scola, Ferreri, Saura - und darin habe ich mich irgendwie gerettet gefühlt. Aber dann ist meine Mutter so plötzlich in die Hilflosigkeit des Alters abgestürzt. Ich bin Einzelkind und bin diesen Weg dann mit ihr gegangen. Und es hat sich über Jahre hin gezogen.

Hairapetian:
War es schwer für Sie, in dieser Zeit auf das Filmen zu verzichten?

Hanna Schygulla:
Das war keine Frage des Abwägens. Ich hätte nicht anders handeln können. Ich war in dieser Situation vom Menschlichen her so stark aufgerufen, das kann man gar nicht mit dem Filmemachen vergleichen. Ich habe auch immer gedacht, der Film wird schon zurückkommen, wenn es denn sein soll. Aber dann fing es mit der Hinfälligkeit des Alters bei meinem Vater an - er litt unter Gleichgewichtsstörungen. Aber er hat dabei auch genießen können, dass ich mit ihm Arm in Arm ging. Da gab es einiges nachzuholen, weil mein Vater sehr verstört aus dem Krieg zurückkam. Seine vielleicht glücklichsten Jahre waren die letzten seines Lebens mit mir zusammen. Insofern war dies eine ganz andere Wirklichkeit, die war in jenen Momenten einfach stärker als der Ruf der Filmwelt. Im übrigen kamen auch keine besonderen Angebote außer, dass David Lynch mich für „Blue Velvet“ wollte. Doch ich war damals wirklich zu anders gepolt, um auf so ein brutales Kunstwerk einzusteigen. Es wäre zu beklemmend gewesen meine beiden Alten, so lange sich selbst zu überlassen - und so habe ich „nein“ gesagt. Meine Mutter starb 1995, mein Vater 2005. Seltsamerweise war es dann so, dass mir von dem Moment seines Todes an, als ich wieder Zeit hatte, wieder neue Rollen angeboten wurden.

Hairapetian:
Hatten Ihre Eltern Sie künstlerisch unterstützt?

Hanna Schygulla:
Nein. Ich kann mich nicht erinnern, mit ihnen jemals einen meiner Filme gemeinsam angeschaut zu haben. Das war für sie befremdend. Meine Kinokarriere hat sie am Anfang auch sehr beunruhigt. Ist ja klar, mit Fassbinder, dem Bürgerschreck, und wo ich doch eher auf etwas Sicheres, den Lehrerberuf, zuging. Aber meine Mutter hat mir irgendwann eröffnet, dass sie heimlich selber auch von einer Karriere als Schauspielerin geträumt hatte. Also wird sie es irgendwo auch verstanden haben. Das Kino war nicht etwas, was ich mit ihnen teilen konnte. Aber das ist immer so: Wenn man jemanden sehr gut kennt, ist es merkwürdig mit anzusehen, wie diese vertraute Person in eine andere Person übertritt.

Hairapetian:
Ist Ihnen durch die Pflege Ihrer Eltern die eigene Vergänglichkeit bewusster geworden?

Hanna Schygulla:
Ja, natürlich. Aber es ist so, wie Fassbinder schon immer geschrieben hat: „Life is very precious, even like now“. Das ist das Positive, was man daraus mitnehmen kann, dankbar zu sein, für jeden Tag, an dem man noch keinen Krebs hat, oder eben noch von keiner Krankheit richtig geschlagen ist. Ich glaube aber auch, dass vieles davon abhängt, ob du genügend Glückshormone ausschütten kannst im Laufe deiner Tage. Je länger ich lebe, umso leichter wird mir das möglich. Insofern wird nicht alles schlechter beim Älterwerden.

Hairapetian:
Haben Sie die Schauspielerei wirklich vollkommen ausgeblendet, als Sie Ihre Eltern gepflegt haben?

Hanna Schygulla:
Nein, ich habe mir während dieser Zeit eine Art neue Lebensphilosophie entwickelt. Meine kubanische Freundin hat mich ermutigt, mich intensiver als bisher mit der Musik zu beschäftigen. Das hat mich sehr inspiriert. Ich habe genauer hingehört, mein Ohr geschult, habe Demokassetten mit Songs zusammengestellt, die ich schon immer einmal singen wollte. Schließlich habe ich eigene Lieder geschrieben. Im Grunde hat mich das Abtauchen aus dem Licht der Öffentlichkeit auf eine andere, neue Weise kreativ gemacht. Um als Künstler zu überleben, blieb mir gar nichts anderes übrig, als meine Zweifel, ob ich tatsächlich professionell singen könnte, endlich mal über Bord zu werfen. Ich habe mir früher immer eingeredet, dass ich mich nur sicher fühlen kann, wenn jemand anderer sich etwas für mich ausdenkt. Weil ich mir das selber nicht zugetraut habe. Man muss sich einfach nur trauen.

Hairapetian:
Gab Fassbinders Film „Lili Marleen“ 1980 den Anstoß für Ihre spätere Gesangskarriere?

Hanna Schygulla:
Ich durfte in dem Film das erste Mal im Film mit eigener Stimme singen. Vorher, in „Götter der Pest“ hatte ich nur die Lippen zur Stimme von Marlene bewegt. Aber da hatte ich noch nicht mit dem Gedanken gespielt, später einmal selbst zu singen werde. Das kam erst so mit fünfzig.

Hairapetian:
Was bedeutet Ihnen heute die Rolle der „Lili Marleen“, die Sie endgültig zum Weltstar machte?

Hanna Schygulla:
Der Film „Lili Marleen“ war in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes, vor allem weil ich den Traum meiner Mutter verwirklicht hatte, einmal in aller Öffentlichkeit dieses Lied zu singen.

Hairapetian:
„Lili Marleen“ war kein typischer Fassbinder-Stoff; es war noch nicht mal sein eigenes Projekt. Wie kamen Sie zu der Rolle?

Hanna Schygulla:
Die Regie war eigentlich schon an Nicolaus Gessner vergeben. Luggi Waldleitner von Rialto-Tobis-Film rief mich an – das war eigentlich das andere, wenn nicht sogar das feindliche Lager. Denn damals waren die Großen der Filmbranche in unseren Augen erzkonservativ. Aber wie es oft so ist, verstehen sich letzten Endes die Feinde manchmal besser als die so genannten Freunde. Der Anruf kam also, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass ich wegen „Die Ehe der Maria Braun“ in New York war und vor und sich dort vor dem Kino Schlangen gebildet hatten. Da war Produzentenfuchs Luggi Waldleitner hellwach und hat mit „Lili Marleen“ das große Geschäft gewittert. Ehrlich, ich wusste zunächst gar nicht, dass das so viel mit Lale Andersen zu tun hatte. Jedenfalls habe ich gesagt: „Ja, ich mache den Film aber nur mit Fassbinder!“ Das war dann für Fassbinder eine Auftragsarbeit. Es gab auch schon ein Drehbuch, das er allerdings sozusagen unterwanderte. Er machte einen anderen Film daraus, als Luggi Waldleitner wahrscheinlich wollte. Denn eigentlich hat er einen Film über die Mitläufer im Dritten Reich gedreht: über das „ja“ sagen, obwohl man innerlich „nein“ sagt. Und auch über die Schizophrenie, ein Kollaborateur und Saboteur in einer Person zu sein. Es ist schon erstaunlich, dass dieser Film, den Fassbinder am wenigsten mochte und den er mit der geringsten Liebe gedreht hat und vielleicht sogar mit einer gewissen Häme, um den Leuten den schlechten Geschmack der Zeit und das Mitläufertum so entgegen zu klatschen, sein größter Publikumserfolg wurde.

Hairapetian:
Sie leben seit 1981 in Frankreich. Was fasziniert Sie an diesem Land?

Hanna Schygulla:
In Frankreich bin ich hängen geblieben. Mit 19 Jahren war ich der Piaf wegen das erste Mal dort. Die konnte so toll von der Liebe singen. Das hat in mir so Fantasien Frankreich gegenüber wach gerufen. Ich bin nach einem Jahr Aupair wieder zurück und mit 38 wieder rüber. Wegen einer großen Liebe, die auch lange gehalten, aber dann irgendwann nicht mehr gehalten hat. Ich wohne mitten in Paris und trotzdem ist das Marais-Viertel gegenüber der Bastille eine Oase für mich. Paris eine sehr schöne, durch den Krieg unverwundete Stadt, die Schattenseiten hat. Dadurch, dass sie so enorm gewachsen ist, ist in ihr auch wenig Platz für Neues. Dieses Bewahrende ist sehr stark in Frankreich.

Hairapetian:
Aber Sie wollen dort bleiben?

Hanna Schygulla:
Nein, will ich eigentlich nicht. Ich kann aber ganz gut noch ein paar Jahre in Paris leben. Manchmal ist es gut, dass man solche Absichten ausspricht, dann werden sie später tatsächlich Wirklichkeit. Ich will in Paris dieses Jahr eine Theaterproduktion machen, „Par Coeur“ heißt sie und ist halb gesungen, halb gesprochen. Sie handelt von einer Sängerin, die auf die Bühne geht und immer den Faden verliert und ihn dann über die Musik wieder aufnehmen kann. Ich habe einmal vor Jahrzehnten nachts so einen ähnlichen Traum gehabt, den habe ich übrigens auch verfilmt. Ich habe manche Nachtträume vor meiner Videokamera mit offenen Augen noch einmal nacherlebt. Dieses Dokument ist inzwischen im Museum of Modern Art in New York gelandet. Und jetzt kommt so etwas Ähnliches auf mich zu in Form dieses Musik-Theaters in Paris. Eine Sängerin gerät in ein Delirium mit allen Hoch- und Tiefflügen von Freiheit und Angst. Vielleicht komme ich auch ganz nach Deutschland zurück - nach Berlin oder auch woandershin. Ich habe immer gesagt, nach München würde ich nie wieder gehen, weil ich es so gut kenne. Inzwischen sage ich manchmal schon fast wieder: Nach München würde ich gehen, weil ich es so gut kenne.

Hairapetian:
Es heißt: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr.“ Würden Sie mit „Sack und Pack“ umziehen? Oder können Sie gut loslassen?

Hanna Schygulla:
Am liebsten würde ich alles einfach so stehen lassen können und ganz neu anfangen. Aber gleichzeitig bin ich jemand, der schlecht wegwerfen kann, weil mir eben auch so viel davon geschenkt wurde. In Berlin hat die Akademie der Künste ein Schygulla-Archiv aufgemacht. Darüber bin ich heilfroh, weil die ab und zu kommen und Dieses und Jenes abtransportieren. Ich war zwar nie ein großer Sammler, aber ich finde doch, dass in all meinen Sachen so viele Lebensspuren von mir drin stecken. Und das ist faszinierend. Manchmal ziehe ich irgendwo aus einem Regal etwas raus und plötzlich entsteht daraus wieder Neues. Diese Art von Recyceln, was man ja in Deutschland viel mehr macht als hier in Frankreich, gibt mir eine ganz andere Einstellung zum Leben. Es ist etwas anderes, als einfach nur wegzuschmeißen.

Hairapetian:
Sie können sich also vorstellen, in einigen Jahren wieder in Deutschland Ihren Lebensmittelpunkt zu finden?

Hanna Schygulla:
Ja, schon allein deshalb, weil die Aussicht, nur noch Deutsch sprechen zu können, einfach entspannend ist.

Hairapetian:
Paris war auch das Rückzugsgebiet zweier anderer großer Künstlerinnen, Marlene Dietrich und Maria Callas. Hat es Sie zum Nachdenken gebracht, wie es mit beiden zu Ende gegangen ist in der Anonymität der Weltstadt?

Hanna Schygulla:
Ja, und so ein Ende möchte ich garantiert nicht – dass ich mich den Blicken entziehe, nur damit man nicht sieht, dass diese Art von Schönheit, durch die beispielsweise Marlene Dietrich zur Göttin wurde, vergänglich ist. Ich glaube, dass für mich noch einige spannende Verwandlungen möglich sind. Ich möchte auf keinen Fall dem Kult des Jungbleibens erliegen, ich fange jetzt nicht an, mir das Alter wegzuoperieren oder dergleichen. Man muss das Alter annehmen und es ist ganz bestimmt nicht immer rosig. Immerhin kann aus jedem Weniger auch wieder ein Mehr werden. Das ist auch eine Form von Lebenskunst. Mein Vater beispielsweise ist früher unheimlich gern gereist, bis er dann irgendwann körperlich so eingeschränkt war, dass es nicht mehr ging. Dann hat er sich eben an dem gefreut, was unmittelbar „vor Ort“ war. Oder wir sind per Fernseher gereist. Die Lebenskunst ist wichtiger als „l’art pour l’art“. Ich finde, dass die Kunst zur Lebenskunst stimulieren sollte. Deshalb kommt der Film von Fatih Akin auch so gut an, weil er Gesten der Hoffnung wagt und findet. In diesem Sinne würde ich gerne noch andere Rollen finden. Ich kann mich erinnern, dass ich als junger Mensch „Harold und Maude“ toll fand.

Hairapetian:
Der Film-Klassiker, in dem sich ein junger Mann in eine sehr alte Frau verliebt.

Hanna Schygulla:
Ja, oder nehmen Sie „Die unwürdige Alte“. Da ist vieles möglich.

Hairapetian:
Frau Schygulla, wenn man Ihren Namen hört, denkt man noch heute sofort auch an Fassbinder. Ärgert Sie das eigentlich?

Hanna Schygulla:
Ich finde es eigentlich schön, weil Fassbinder auf diese Weise durch mich weiterlebt. Zuerst hat es mich durch ihn gegeben in den Filmen. Und heute trage ich auch immer ein Stück seines Vermächtnisses weiter.

Hairapetian:
Klaus Löwitsch hat mir einmal erzählt, dass Fassbinder die Frauen viel ruppiger behandelt hat als die Männer. Haben Sie das auch so empfunden?

Hanna Schygulla:
Ja, Regisseure sind meistens Machtmenschen. Die müssen ein Imperium zusammenhalten. Fassbinder war aber auch ein Zauberer mit einem unsichtbaren Zauberstab. Aber das ging nicht ohne Konflikte ab.

Hairapetian:
Sie machen jetzt in erster Linie mit Ihren Auftritten als Chansonsängerin Furore. Welche Möglichkeiten sehen Sie heute als Schauspielerin für sich?

Hanna Schygulla:
Es ist schon möglich, dass jetzt die „Altersrollen“ kommen. Da gibt es wohl auch Bedarf, denn die Welt wird ja auch älter. Zumindest in unseren Breiten. Da wartet noch etwas auf mich. Das spüre ich. Etwas, in das ich alles zurückfließen lassen kann, was ich in so vielen Lebensjahren in mir aufgesogen habe.

Hairapetian:
Sind Sie heute unbelasteter?

Hanna Schygulla:
Ja, natürlich, gerade durch die Erneuerung im Alter. Je näher das Ende rückt, desto öfter fragt man sich: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Man begreift, dass jeder Tag ein neuer Tag ist. Das ist auch eine Form von Erwachen, weil man merkt, die Zeit wird knapper. Und dass du aus dem Konkurrenzkampf raus bist. Das ist auch eine Befreiung.



Hanna Schygulla wurde am 25. Dezember 1943 in Königshütte (Oberschlesien) als Tochter eines Holzhändlers geboren. 1967 holte sie Rainer Werner Fassbinder an sein Action-Theater. „Liebe ist kälter als der Tod“ war ihre erste Zusammenarbeit mit ihm beim Film, die mit „Die Ehe der Maria Braun“ (1978) und „Lili Marleen“ (1980) ihre Höhepunkte hatte. In den USA als „größter weiblicher Weltstar nach Marlene Dietrich“ gefeiert, stellte sie ab Ende der 1980er Jahre die eigene Karriere hinten an, um ihre Eltern Joseph und Antonie zu pflegen. Dennoch entstanden nie zu lange Drehpausen. Seit 1981 lebt die Schauspielerin und Chansonsängerin in Paris. Mit Fatih Akims „Auf der anderen Seite“ feierte sie letztes Jahr ein beachtliches Kinocomeback. Im November 2007 war Hanna Schygulla beim 21. Internationalen Filmfest in Braunschweig die erste Preisträgerin des neuen europäischen Schauspielerpreises „Die Europa“.


Das Gespräch mit Hanna Schygulla führte Marc Hairapetian am 10. und 11. November 2007 in Braunschweig.