„Meine Kunst braucht niemand, deshalb ist sie so erfolgreich!“

Interview mit Verhüllungskünstler Christo

Von Marc Hairapetian

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Christo (eigentlich Christo Wladimirow Jawaschew), der zusammen mit seiner Frau Jeanne-Claude (13. Juni 1935 - 18. November 2009) mit monumentalen Projekten wie „Verhüllter Reichstag“ oder „Die Tore“ international für Furore sorgte, lässt es sich beim Gespräch in seiner Suite im Berliner Hotel Maritim pro Arte mit dem ruhelosen SPIRIT nicht nehmen, ausführlich Fotos und Skizzen aus dem neuen Buch „Christo & Jeanne-Claude“ (Taschen, 2010) zu erläutern. Ein Gespräch mit dem (ebenfalls am 13. Juni 1935) im bulgarischen Gabrowo geborenen Meister der ökologischen Ästhetik über die Nutzlosigkeit von wahrer Kunst und die Zärtlichkeit des Augenblicks.

Marc Hairapetian: Vor einem Jahr ist Ihre Frau verstorben, mit der Sie seit Ende der 1950er Jahre privat wie künstlerisch untrennbar verbunden waren. Woher nehmen Sie die Kraft, weiterzumachen?

Christo: Jeanne-Claudes Tod war natürlich der schlimmste Schicksalsschlag in meinem Leben. Kein Mann möchte nach seiner Frau gehen. Doch es ist nun mal leider so gekommen. Nach dem Schock und einer Phase der tiefen Trauer beschloss ich, weiter zu machen. Auch für sie. Viele unserer Arbeiten sind noch unverrichtet - ich möchte so viele wie möglich vollenden, auch für Jean-Claude. Wir waren eine perfekte Symbiose - partnerschaftlich wie künstlerisch, gerade, weil wir so unterschiedlich waren. Und die Kraft nehme ich aus der Liebe, die sie mir gegeben hat und die immer noch da ist. Im Universum geht nichts verloren. Das ist ja sogar physikalisch nachweisbar. Es wandelt sich ja nur alles um. Wenn man das begriffen hat, kann man mit dem Schmerz weiterleben.

Marc Hairapetian: Sie sagen immer noch „wir“ und „uns“. 

Christo: Natürlich Christo und Jeanne-Claude waren, sind und bleiben eine Einheit. Alles ist jetzt anders, denn ist Jean-Claude ist nicht mehr als körperliches Wesen bei mir. Ich muss ohne sie weiterleben. Ich habe mit ihr 50 Jahre zusammengelebt und in gewisser Hinsicht lebe ich auch jetzt mit ihr weiter, denn unsere gemeinsame Arbeit muss wie gesagt weitergehen. 

Marc Hairapetian: Wer hilft Ihnen jetzt, diese Arbeit fortzuführen?

Wir hatten schon zu Jeanne-Claudes Zeit drei Assistenten, die ihr halfen, den Büroalltag zu managen. Da waren und sind noch mein Neffe Wladimir Jawaschew, Jeanne-Claudes Neffe Jonathan Henry und Adam Blackborn, der Neffe von jemand anderen. Sie hielt mir immer das Telefonieren, zu dem ich keine Lust hatte, vom Hals. Verhandlungen und Kommunikation zur Außenwelt waren ihr Part. Am meisten steht mir jetzt Vladimir zur Seite, der mich auch bei meinen Reisen begleitet. Und natürlich Fotograf Wolfgang Volz, der schon seit Jahrzehnten ein ganz enger Freund unserer Familie ist. 

Marc Hairapetian: Müssen Sie jetzt häufiger selbst zum Hörer greifen, um geschäftliche Gespräche zu führen?

Jetzt habe ich Skype entdeckt - und das schätze ich vielmehr, als nur zu telefonieren. Durch die Kamera kann ich den Leuten meine Pläne auch visuell erklären und sogar Skizzen zeigen. Ein Vorteil moderner Technologie, der ich sonst skeptisch gegenüber stehe.

Marc Hairapetian: Woher rührt Ihre Skepsis?

Christo: Moderne Technologien rauben uns häufig die eigene Phantasie. Außerdem sehen Ihre Resultate meist schlecht aus im ästhetischen Sinne. Nehmen Sie die Computeranimation im Film, die immer noch von erschreckender Unschärfe ist.

Marc Hairapetian: Welche Unterschiede „trennten“ Sie noch bei allen Gemeinsamkeiten von Jeanne-Claude?

Christo: Wissen Sie, als mich 1958 Jeanne-Claudes Mutter Précilda de Guillebon bat, eine Reihe von Porträts anzufertigen, war ihre entzückende Tochter alles andere als von mir begeistert. Mein harter Akzent missfiel ihr vor allem - und außerdem sah ich für die Femme Fatale aus gutem Haus mit meinen damals noch kurzen Haaren wie ein verkopfter Akademiker für aus. Ihre Frau Mama erteilte mir weitere Aufträge und so war es unausweichlich, dass sich Jeanne-Claude und ich uns besser kennen lernten. Ich erteilte Ihr Unterricht in Kunstgeschichte und sie lehrte mich besseres Französisch. Da sie ihrem Freund Philippe Planchon versprochen war, den sie später sogar heiratete, wendete ich mich - vielleicht aus Enttäuschung - ihrer nicht minder hinreißenden Halbschwester Joyce zu. Allen Widerständen zum Trotz kamen Jean-Claude und ich später dennoch zusammen. Als sie mit unserem Sohn Cyril schwanger war, folgte die endgültige Trennung mit Phillipe beziehungsweise Joyce, was für die beiden - und auch uns - nicht einfach war. Doch wer liebt schon einfache Beziehungen? Jeanne-Claude hatte noch mehr Temperament als ich, konnte die Nacht zum Tag machen! Doch durch unsere Unterschiedlichkeit blieb unsere Liebe über Jahrzehnte immer frisch.

Marc Hairapetian: Warum zeichnete Jeanne-Claude eigentlich niemals etwas?

Christo: Sie hätte es gekonnt, aber sie hielt mir lieber den Rücken frei, indem sie bürokratische Dinge für uns abwickelte. Dennoch war sie in immenser Hinsicht auch künstlerisch tätig. Alle Projekte sprachen wir gemeinsam durch. Ich machte die Zeichnungen, die sie kommentierte. Und manchmal hatten wir auch heftige Debatten über Standorte, Farben und Materialien. 

Marc Hairapetian: Werden Sie auch Ihre nächsten Projekte unter „Christo & Jeanne Claude“ laufen lassen?

Christo: Ja, das wird bis zu meinem Tod so bleiben. Auch der aktuelle Bildband, der wie ein Gesamtkatalog mit kritischer Analyse unserer Gesamtarbeiten zu lesen ist, trägt exakt diesen Titel. 

Marc Hairapetian: Wieso liegt Ihr aktuelles Hauptprojekt „Over the River“, bei dem Sie den Fluss Arkansas mit frei schwebenden Gewebebahnen überspannen wollen, derzeit brach? Stimmt es, dass Sie Auflagen der amerikanischen Regierung, die ökologische Bedenken hatte, nicht akzeptieren wollten und deshalb die Arbeit daran stoppten?

Christo: Das ist absoluter Quatsch. „Over the River“ wurde bisher zwei Mal wegen der Realisierung anderer Langzeitprojekte, für die Jeanne-Claude und ich die Erlaubnis erhalten hatten, aufgeschoben: einmal als wir 1995 den Reichstag in Berlin verhüllen konnten und zweitens als wir 2005 im New Yorker Central Park 7503 Tore aufstellten. „Over the River“, an dem wir seit 1992 arbeiten, nähert sich nun der „heißen Phase“ der Projektgenehmigung. Ende April/Anfang Mai 2011 soll nun der Umweltschutzbericht vorliegen, der über die Genehmigung entscheidet. 

Marc Hairapetian: Wie soll es dann weiter gehen?

Sollen wir grünes Licht bekommen, werden wir 2013 mit der Überspannung des Arkansas beginnen. Da der betroffene Flussabschnitt zwischen Canon City und Salida immer wieder von Brücken, Felsen und Bäumen unterbrochen wird, könnten meine Mitarbeiter und ich voraussichtlich „nur“ elf von insgesamt 60 Kilometern Länge überspannen. Nochmals: Ökologische Bedenken haben die US-Regierung und der Gouverneur von Colorado keineswegs. Die müsste eher ich haben, wenn ich höre, dass diese wunderbare Gegend bald von weiteren Highways, Wolkenkratzern und einem neuen Flughafen durchzogen werden soll.

Marc Hairapetian: Was machen Sie, wenn Sie die Erlaubnis nicht bekommen?

Zunächst einmal hoffe ich sehr, die Genehmigung zu erhalten. In 46 Jahren haben wir über 22 von der Konzeption ähnlich geartete Projekte realisiert, 37 weitere kamen bisher noch nicht zustande. Häufig scheiterte es daran, dass die Regierungen wechselten und Versprechen somit ihre Gültigkeit verloren. Vermutlich konzentrieren wir uns dann wieder auf die 300 Meter breite, 225 Meter tiefe und 150 Meter hohe Mastaba, die mit 410.000 horizontal gestapelten Ölfässern in der Wüste der Vereinigten Arabischen Emirate, errichtet werden soll. Auch dies ist seit 1977 ein Langzeit-Projekt. Damals wusste im Westen kaum einer wo die Hauptstadt Abu-Dhabi liegt, nun kennt sie die ganze Welt! Aufgrund der nicht einfachen politischen Lage ruhte bis vor kurzen die Unternehmung; jetzt sind wieder Verhandlungen aufgenommen worden. Bisher haben wir immer alle Kosten selbst getragen, doch die umgerechnet halbe Milliarde US-Dollar können wir nicht allein bezahlen.

Marc Hairapetian: Was kann danach noch kommen? Wollen Sie vielleicht auch das Weltall verhüllen? 

Christo: Das ist eine großartige Idee! Aber Spaß beiseite! Alle unsere Projekte sind von der mechanischen Seite betrachtet sehr simpel gestrickt. Wir vollbringen keine elektronischen Wunder, auch keine physikalischen. Manche Ingenieure machen viel schwierige Sachen: Autobahnen, Brücken und Wolkenkratzer bauen. All unsere Projekte, auch die 40 Kilometer langen, sind sehr ökonomisch angelegt. Kompliziert ist eigentlich nur die Finanzierung, die aus Verkäufen der Relikte unserer Werke beziehungsweise der Publikationen darüber zustande kommt. 

Marc Hairapetian: Bereits 1920 verhüllte der Fotograf Man Ray eine Nähmaschine und nannte das Kunstwerk „Das Rätsel der Isidore Ducasse“. Henry Moore fertigte 1942 die Zeichnung „Menschenmenge, die ein verschnürtes Objekt betrachtet“ an. Das sind alles relativ kleine Arbeiten. Warum muss Ihre Kunst immer monumental sein?

Christo: In der Tat war Moore für mich eine große Inspiration. Ich selbst, empfinde die Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude nicht als monumental. Jeanne-Claude hat gesagt: „An sich ist Pont Neuf keine große Brücke, erst in der Verhüllung sieht sie gewaltig aus.“ Genauso war es mit dem Reichstag. Ein anderer Aspekt ist mir viel wichtiger: Unsere Kunst muss immer nutzlos sein.

Marc Hairapetian: Nutzlos?

Christo: „Genau. Meine Kunst braucht niemand, deshalb ist sie so erfolgreich. Erst ihre Irrationalität macht sie wirklich groß. Der Moment, wenn der Betrachter realisiert, dass sie nicht notwendig ist.

Marc Hairapetian: All Ihre Arbeiten sind Huldigungen an den Augenblick , da sie nur „Nachbilder“ hinterlassen in Form von Film, Fotografie, Skizzen und Collagen. Ist die beste Kunst immer vergänglich?

Christo: Da ist etwas wahres dran. Wie Sie wissen bin ich ein Befürworter der ökologischen Ästhetik, die dem Flüchtigen ihren Tribut zollt und nicht noch mehr Museen und Galerien vollstopft. Jeanne-Claude liebte Fresken und Bronzen, doch wir beide waren uns einig: Die wahre Kunst liegt in der Zärtlichkeit des Augenblicks. Es verhält sich so wie mit unserer Kindheit, der wir als Erwachsene ein Leben lang nachtrauern. Wir sind alle einzigartig - Sie, ich. Fragilität macht die nomadische Qualität unserer Arbeiten aus. 

Marc Hairapetian: Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen?

Christo: Unsere Objekte sind nicht statisch wie Steine - sie werden vielmehr auf- und abgebaut. Ich erinnere mich an die letzte Nacht des verhüllten Reichstags und welche wehmütige Abschiedsstimmung in Berlin damals herrschte. Sie ergriff sogar mich. Die Menschen waren sich der Einzigartigkeit des Augenblicks bewusst. Dieser „Good bye!“-Effekt, wenn es am nächsten Tag durch den Abbau keine Tore oder Regenschirme oder Verhüllungen mehr gibt, macht die eigentliche künstlerische Qualität aus. Dagegen wirken doch Dauerausstellungen in Museen irgendwie banal. Und ich bin ehrlich: Auch die Filme und Fotos, so gut sie auch gemacht sind, können immer nur Abbilder unserer Werke sein.

Marc Hairapetian: Trifft es Sie eigentlich, dass Ihre Arbeiten kontrovers diskutiert werden und manchmal auf harsche Ablehnung stoßen?

Christo: Diskussion ist an sich immer gut. Mich stört, dass Rezensionen unserer Arbeiten häufig vorab schon zu lesen sind, bevor sie physikalisch umgesetzt werden. Niemand bespricht ein Buch bevor es geschrieben wurde, bei Werken von Jeanne-Claude und mir verhält es sich anders. Ich weiß noch, wie bereits Ende der 1970er Jahre - als der konservative, aber aufgeschlossene Karl Carstens Bundespräsident war - ein Aufschrei in den Medien laut wurde. Dabei befand sich der verhüllte Reichstag erst in der Planungsphase. Das empfand ich manchmal als etwas unfair. 

Marc Hairapetian: Wie prüfen Sie eigentlich Ihre Projekte auf Durchführbarkeit?

Wir machen sogenannte „Live-Sight-Tests“. Das heisst: An geheim gehaltenen Orten prüfen wir mit unseren Ingenieuren im kleineren Masstab die Projekte auf Ihre Realisierbarkeit. So wurden auf einer privaten Ranch nahe Seattle, also viele Kilometer von New York entfernt, über sieben Monate kleine Tore aufgestellt, von denen safrangelbe Stoffbahnen herunterhingen. Wir untersuchten Ihre Haltbarkeit unter Sonneneinfluss und anderen Wetterverhältnissen. Erst wenn wir uns sicher sind, dass die Materialien witterungsfest sind, setzen wir sie auch beim endgültigen Projekt ein.

Marc Hairapetian: Sehen Sie sich eigentlich auch die Werke anderer Künstler gerne an?

Christo: Jeanne-Claude hat immer gesagt: Wir beantworten alle Fragen bis auf diejenigen nach Religion, Politik und anderen Künstlern. Dennoch: Als ich jung war, bin ich mit mit Jeanne-Claude sehr gerne in Ausstellungen gegangen. Seit 1975 verwende ich meine Zeit hauptsächlich für meine Arbeit. Nur abends gehe ich aus - und da haben die meisten Galerien geschlossen, es sei denn es handelt sich um eine Eröffnung.

Marc Hairapetian: Auch mit 75 wirken Sie voller Tatendrang. Wie entspannen Sie sich eigentlich?

Christo: Wie Sie wissen, bin ich bulgarischer Abstammung - und da wissen wir die Feste zu feiern, wenn sie kommen. Ich liebe Musik. Jeanne-Claude und ich sind nie in den Urlaub gefahren, aber wir haben immer relaxt, indem wir gemeinsam ins Kino gingen. 

Marc Hairapetian: Welche Filme lieben Sie?

Wir haben uns fast alles angesehen: Lustiges, ernsthaftes, manchmal auch nur einfach albernes. Sie mochte die Hollywood-Filme der 1930er Jahre, aber unser gemeinsamer Lieblingsfilm war „Jules und Jim“ mit Jeanne Moreau, Henri Serre und Oskar Werner, den ich noch „live“ auf den Brettern des Wiener Burgtheaters gesehen habe. Wir verbrachten auch viele Stunden in der Cinémathèque Francaise zur Zeit eines Henri Langlois. Die 1960er Jahre waren schon aufregend, weil die Schaffenden aus Film, Musik, Literatur, Kunst und Mode in einer Art Aufbruchstimmung waren. Es gab noch klassische Linien, die allerdings schon in der Auflösung waren. Auch heute gehe ich gerne ins Kino, obwohl viele Filme risikoärmer wirken als früher.

Marc Hairapetian: Ist die sogenannte bildende Kunst heute auch noch risikoärmer?

Es scheint so. Alles scheint schon da gewesen zu sein. Das sagte man allerdings auch bevor Punk kam.Da heute mehr mit Sponsoren und der Wirtschaft zusammengearbeitet wird, wirkt Kunst häufig angepasster und mutloser. Ein Grund, warum Jeanne-Claude und ich nie mit dem Spendenhut herumgingen.

Marc Hairapetian: Würden sie sich selbst als Idealist beschreiben?

Christo: Ich bin kein keiner Idealist. Ich will nichts unmögliches realisieren, aber ich will mich auch nie mit dem kleinstmöglichen Nenner zufrieden geben. Vielleicht bin ich ein idealistischer Rationalist.
 

Das Gespräch führte Marc Hairapetian. Das Foto von Christo und Marc Hairapetian machte Wladimir Jawaschew.