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Das Foto von Marc Hairapetian und Riz Ortolani machte Wolfgang Stradner für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de

Meine Musik gehört der Welt!

Interview mit Riz Ortolani

von Marc Hairapetian

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Rieziero Ortolani, kurz und liebevoll Riz genannt, ist am 4. September 1931 in der italienischen Hafenstadt Pesaro geboren. Neben Ennio Morricone und Luis Enrique Bacalov gehört er zu den letzten Überlebenden der großen italienischen Filmmusik-Ära. Er hat Welthits wie "More" (1962) geschrieben, aber auch Agenten-Parodien ("The Spy with a Cold Nose" (1966) und Hardcore-Mondo-Filme ("Cannibal Holocaust", 1980) musikalisch veredelt. Marc Hairapetian traf den großen Komponisten anlässlich des Festivals "50 Jahre Karl-May-Filme" in Berlin, wo beim abendlichen Gala-Dinner mit den Stars Ingeborg Schöner, Gojko Mitic, Bill Ramsey, George Heston und Artur Brauner fast ausschließlich Ortolanis Musik und die des ebenfalls anwesenden Martin Böttcher gespielt wurde. Im Interview spricht der Maestro über seinen "Old Shatterhand"-Soundtrack, Pseudo-Dokumentationen am Rand des Erträglichen und Liebe in einer Welt voll Hass.

Marc Hairapetian: Maestro Ortolani, wie sind Sie zur Filmmusik gekommen?

Riz Ortolani: Ich habe schon immer gerne Musik gehört und gespielt. Bereits mit vier Jahren versuchte ich mich an der Violine. Musik studierte ich dann am Conservatorio Statale Di Musica G. Rossini in Pesaro. Eine Filmmusikkarriere hatte ich mir nicht vorgestellt, obwohl ich Filme und das Kino schon von Kindheit an liebte. In den 1950er Jahren war ich Gründer einer damals in Italien sehr populären Jazzband. Meine erste Filmmusik schrieb ich 1962 für Gualtiero Jacopettis Pseudo-Dokumentarfilm "Mondo Cane", der einem in dokumentarischen und nachgestellten Szenen die Verkommenheit unserer "Hunde"-Welt vor Augen führen sollte, indem er Sitten und Gebräuche unterschiedlicher Kulturen und Gesellschaften schonungslos offen legte. Jacopetti, der leider am 17. August 2011 verstarb, war zuvor Journalist und kannte meine Jazzband. Deswegen engagierte er mich - und ich schrieb zusammen mit Nino Oliviero den Soundtrack. Der Film wurde ein Kassenschlager und "More" ein Welthit, der zum meistnachgespielten Stück aller Zeiten avancierte. Ich erhielt eine Oscar-Nominierung. Und dann ließ mich das Komponieren für Filme nicht mehr los. Ich bin ein glücklicher Mann, denn es ist mehr in Erfüllung gegangen, als was ich je zu wünschen wagte.

Marc Hairapetian: "Mondo Cane" und "Cannibal Holocaust" waren pseudodokumentarisch Filme, voller Härte, Verstümmelungen und Grausamkeiten. War das schockierend für Sie, wenn Sie diese Filme mit Schlachtungen von Tieren und Kannibalismus-Sequenzen ansehen mussten? Und warum haben Sie zum Kontrast so liebliche Musik dazu geschrieben?

Ortolani: Natürlich war das schockierend für mich. Ich habe das extra mit der romantischen Musik gemacht. Diese Filme sind so stark und diese Welt ist so böse und voller Hass, ja das Leben kann so böse sein, da musste ich etwas aussuchen, das irgendwie Liebe beinhaltet. Deswegen habe ich "Liebesmusik" dafür komponiert. Wenn die Welt böse ist, muss man ihr Liebe entgegen schicken.

Marc Hairapetian: Welche Adaption von den unzähligen Coverversionen von "More" hat Ihnen am besten gefallen?

Ortolani: Die gesungene von Frank Sinatra! Er war und bleibt "The Voice"!

Marc Hairapetian: Wie lange haben Sie für das traurig-schöne Synthie-Thema zu "Cannibal Holocaust" gebraucht?

Ortolani: Nicht sehr lange. Die Idee kam mir einfach, als ich mir die Grausamkeiten im Film zwangsläufig ansehen musste. Ich wollte eine etwas traurige, aber auch sehnsuchtsvoll-schöne Musik schaffen.

Marc Hairapetian: Hat der Film auch eine künstlerische Qualität für Sie?

Ortolani: Regisseur Ruggero Deodata hat den Film auch als eine Art Hardcore-Hommage an "Mondo Cane" gemacht. Der Film wurde in einem teilweise realistischen Dokumentationsstil in Kolumbien gedreht und er enthält im Gegensatz zu anderen Filmen des Genres sogar eine schlüssige Handlung. Es gibt Anspielungen auf die zum Teil nachgestellte Nachrichtenberichterstattung italienischer Journalisten-Teams über die Roten Brigaden. In seinem Film lässt das Drehteam, um besonders spannende Szenen einzufangen, ein ganzes Dorf am Amazonas niederbrennen und eine Eingeborene vergewaltigen. Daraufhin werden die Weißen von den überlebenden Stammesbewohnern regelrecht zerfleischt. Das Filmmaterial, das alle Grausamkeiten enthält, wird von einem Anthropologen gefunden. Der produzierende Fernsehsender sieht von einer Ausstrahlung ab und befiehlt, das Material zu vernichten. Mit den Worten "Ich frage mich, wer die echten Kannibalen sind.", verlässt der Anthropologe das Gebäude. Diese Aussage ist für die Selbstrechtfertigung des Films sehr wichtig. Nur aufgrund der Schlusseinstellung habe ich mich überhaupt dazu entschlossen, bei diesem Film als Komponist mitzuwirken. Der sozialkritische Anstrich entlarvt den vermeintlich zivilisierten Menschen von heute. Es ist eine Anklage der Sensationslust der Massenmedien. Somit hat "Cannibal Holocaust" für mich künstlerische Qualität. Ich habe es Deodato nur übel genommen, dass er Videomaterial von echten Hinrichtungen eingebaut hat, die eine vermeintliche Vorgängerdokumentation des "Cannibal"-Drehteams zeigen soll. Außerdem gab es reale Tierschlachtungen im Film. Deodato versicherte zwar, dass die Tiere später vom Filmteam und den Eingeborenen verspeist wurden, aber das gefiel mir noch weniger.

Marc Hairapetian: In den 1950er Jahren und 1960er Jahren war das italienische Kino auf dem absoluten Höhepunkt. Hätte es Sie auch gereizt mit Federico Fellini oder Michelangelo Antonioni zusammenzuarbeiten?

Ortolani: Ich hatte diese Möglichkeit nicht, denn sofort nach "Mondo Cane" habe ich im Ausland gearbeitet. Vorderrangig in den USA und Mexiko. Von den italienischen Regisseuren waren und sind mir Dino Risi und Damiano Damiani sehr wichtig. Federico Fellini wäre eine großartige Herausforderung gewesen, aber mit Nino Rota hatte er schon einen wunderbaren Stammkomponisten.

Marc Hairapetian: Sie haben auch für deutsche Filmproduktionen gearbeitet, so für die beiden 70mm-Filme "Flying Clipper" und "Old Shatterhand". War das Arbeiten dafür anders? Vielleicht sogar aufwendiger, weil es sich um Breitwandfilme handelte?

Ortolani: Nein, die Musik muss sich immer selbst aufmachen, ob es sich um große oder kleine Filme handelt. Die Tür muss aufgehen und ich muss dafür den musikalischen Notenschlüssel finden. (lacht)

Marc Hairapetian: Der zugleich herzergreifende und monumentale Main Title zu "Old Shatterhand" ist eines ihrer besten Stücke. War das schwierig für Sie, als ein Mann, der aus dem Land Italo-Western" kommt, eine Musik für einen deutschen Western zu schreiben?

Ortolani: In der Tat. Die deutschen Karl-May-Filme waren ganz anders als unsere Italo-Western. Mehr edel und nicht so rau und brutal. Als mir Produzent Artur Brauner 1964 "Old Shatterhand" anbot, begann ich darüber nachzudenken, wie Deutsche den Western sehen würden und habe versucht eine deutsche, sehr romantische Western-Musik zu komponieren. Ich durfte, einen großen Chor einsetzen, der auch die Hauptfigur des Films, den von Lex Barker sehr männlich und idealistisch verkörperten "Old Shatterhand", charakterisieren sollte. Meine Musik war zudem sehr rhythmisch, weil im Film viel geritten wurde. So wurde es eine Pferdeoper im besten Sinne! (lacht)!

Marc Hairapetian: Haben Sie Karl-May-Stammkomponist Martin Böttcher eigentlich schon damals kennen gelernt?

Ortolani: Nein, ich treffe ihn heute bei der Gala von "50 Jahre Karl-May-Filme" hier in Artur Brauners Hollywood Media Hotel zum ersten Mal.

Marc Hairapetian: Ist man als Filmmusiker eigentlich im Austausch mit anderen Komponisten?

Ortolani: Es gibt keinen Kontakt, denn deine Musik muss deine eigene bleiben. Man ist sehr auf seine Arbeit fokussiert und allein in seiner Welt - leider.

Marc Hairapetian: Was sind Ihre Lieblingskomponisten?

Ortolani: Ich liebe die amerikanische Musik, zum Beispiel George Gershwin. Die Musiker dort sind zudem extrem professionell. Meine Kompositionen sind sehr international, nicht so italienisch. Meine Musik gehört der Welt.

Marc Hairapetian: Und welchen Ihrer eigenen Soundtracks mögen Sie besonders?

Ortolani: Natürlich alle. Doch im Ernst: "Mondo Cane", "Cannibal Holocaust" und "The Spy with a Cold Nose" sind mir, glaube ich, besonders gut gelungen. Letztgenannte Agentenfilm-Parodie mit dem viel zu früh verstorbenen Akteur Laurence Harvey und der bezaubernden Daliah Lavi ist einfach köstlich. Für Daliah habe ich extra die ausgelassene Beat-Up-Tempo-Nummer "Natasha´s Dance" komponiert.

Marc Hairapetian: Ihr letzter Soundtrack "Una sconfinata giovezza" ("A Second Childhood") stammt aus dem Jahr 2010. Arbeiten Sie noch heute, wo Sie die 80 überschritten haben?

Ortolani: Ich schreibe täglich Musik, ob zu privaten oder professionellen Zwecken. Im Filmbereich komponiere ich derzeit nur noch für Italien, nicht mehr für Hollywood. Außerdem kristallisierte sich in den letzten Jahren eine Hinwendung zur Klassik bei mir heraus. So schrieb ich zuletzt eine Oper Musik und eine Symphonie.

Ihre Gattin ist die Sängerin Katyna Ranieri. Hat es Sie mit Stolz erfüllt, dass Ihr für Sie komponiertes Stück "Oh my Love" aus dem 1971 entstandenen Film "Addio Zio Tom" ("Goodbye Uncle Tom") von Gualtiero Jacopetti and Franco Prosperi 2011 für den Soundtrack des Kultfilm "Drive" ausgewählt wurde?

Ortolani:. Ja, das ist ganz wunderbar, weil Katynas Gesang perfekt zur tragischen Liebesstimmung zwischen Ryan Gosling und Carey Mulligan passt. Es hat mich aber auch schon mit Stolz erfüllt, dass Katyna 1964 als erste Italienerin bei den "36th Academy Awards" singen durfte. Ich liebe sie über alles - und sie macht mich jeden Tag stolz.

Marc Hairapetian: Bedauern Sie, dass sich Filmmusik im Lauf der Zeit so verändert hat?

Ortolani: Leider ist heute die Musik immer dieselbe. Nicht nur heutige Cineasten suchen die Musik von den 1960er und 1970er, die einfach innovativer und charismatischer war. Nicht umsonst hat Quentin Tarantino für "Kill Bill Vol. 1 &2", "Inglorious Basterds" und jetzt auch für seinen neuen Film "Django Unchained" Musik von mir verwendet. Für letztgenanntes Sklaverei-Epos bat er mich, mein brutal vorwärts treibendes Italo-Western-Stück "I Giorno Dell´Ira" ("Day of Anger") freizugeben. Er ist ein sympathischer Typ, der viel Ahnung von Filmhistorie hat. Wenn die Filmmusik heute nichts mehr Neues bietet, greift man eben auf Ennio Morricone, Luis Enrique Bacalov oder mich zurück. Und dass ist mir natürlich sehr recht!


Das Gespräch mit Riz Ortolani führte Marc Hairapetian exklusiv am 28. Juli 2012 im Café Callas des Berliner Hollywood Media Hotels für das von ihm herausgegebene Kulturmagazin SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de und Cinema Musica.