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Paul Verhoeven & Marc Hairapetian (Foto: Heiko Lehmann für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM)

"Sexualität ist der Imperativ des Lebens!"

Ein Interview mit "Elle"-Regisseur und Berlinale-Jury-Präsident Paul Verhoeven

Von Marc Hairapetian

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Der am 18. Juli 1938 in Amsterdam geborene Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent Paul Verhoeven ist auch im Interview ein charmanter Provokateur, der gerne Tabuthemen aufgreift. Der Mitbegründer der niederländischen Nouvelle Vague ("Türkische Früchte", "Der Soldat von Oranien"), der in Hollywood Sex & Crime mit "Basic Instinct" (1992) neu definierte und "Starship Troopers" (1997) als Science-Fiction-Soap-Opera in Leni-Riefenstahl-Optik inszenierte, sprach mit Marc Hairapetian im Berliner Hotel Adlon Kempinski über heikle Vergewaltigungsszenen, Hollywoods Selbstzensur, die Berlinale, das Weltall und wie man ohne religiöses Empfinden Jesus-Fan sein kann.

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 Marc Hairapetian: Sie sind Präsident der Internationalen Jury der diesjährigen Berlinale. Wie gehen Sie das nicht gerade einfache Amt an?

 Paul Verhoeven: Ich hoffe, ich bin objektiv und meine Jury-Kollegen sind alle aufgeschlossen und vorurteilslos. Aber ich denke, dass wir schon eine tolle Gruppe zusammen haben. Eigentlich finde ich, dass Filmpolitik nicht über der Filmkunst stehen sollte, aber die Berlinale ist von je her ein sehr politisches Festival. Mal sehen, ob ich dieser "Tradition" im Wettbewerb als Jury-Präsident gerecht werde. Man kann sicher hervorragende Filme über Politik machen, aber Politik sollte niemals über die Filmkunst bestimmen. Das ist bei dem Versuch, objektiv zu sein, mein Anspruch.

 Marc Hairapetian: Sie selbst haben viele Preise erhalten, auch negative. Die Goldene Himbeere für "Showgirls" als schlechtester Regisseur nahmen Sie persönlich entgegen.

 Paul Verhoeven: Den Spaß wollte ich mir nicht entgehen lassen. "Showgirls" hält bis heute mit den 13 Nominierungen den Rekord bei der Goldenen Himbeere. "Immerhin" konnten wir sieben Trophäen davon mit nach Hause nehmen. (lacht) Außerdem finde ich, dass man zu dem stehen soll, was man macht.

 Marc Hairapetian: Bei Ihrem neuen Film "Elle" hat sich das Blatt wieder gewendet. Das Vergewaltigungsdrama der anderen Art, dass auf dem Beststeller "Oh." des Franco-Armeniers Philippe Djian basiert, schockierte und faszinierte im letzten Jahr zugleich das Publikum bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes, erhielt auch anderswo zahlreiche Preise und kommt nun am 16. Februar in die deutschen Kinos. War es einfacher die deutsche Koproduktion "Elle" in Frankreich zu drehen, als in den Studios der sogenannten "Traumfabrik"?

Elle

 Paul Verhoeven: Das "X"-Rating der Motion Picture Association of America wurde 1990 in ein "NC-17" umbenannt, das den Zugang erst ab 18 Jahren erlaubt. "X"-Rated-Filme waren ja zu einem umgangssprachlichen Synonym für reine Pornofilme verkommen, was "Elle" natürlich nicht ist. Wir - das heißt mein Drehbuchautor David Birke und ich - haben uns in lange Diskussionen sehr eng an die Vorlage von Philippe Djian gehalten. Wir deuten also mehr an, als dass wir es wirklich zeigen. Das aber wäre schon in den heutigen USA kaum möglich gewesen. Insofern haben wir uns in Frankreich tatsächlich freier gefühlt. Die Geschichte könnte aber auch in einem anderen westlichen Land spielen.

 Marc Hairapetian: Dabei hat es Ihnen doch zuvor bei "Basic Instinkt" und "Showgirls" sicher Spaß gemacht, die selbst auferlegten "Zensurbestimmungen" des puritanischen Hollywood zu unterlaufen?

 Paul Verhoeven: Das ist gut gesagt! Der strenge Hays Code, auch Production Code genannt, wurde zwar unter der Leitung von Jack Valenti im Jahr 1968 stark gelockert, dennoch kann man bis heute keine wirkliche Erotik in Hollywood-Filmen zeigen. Gewalt allerdings schon. Es war sehr knifflig, 1992 "Basic Instinkt" und 1995 "Showgirls" in den USA zu drehen. Wenn du den Studiobossen mit der Ausgestaltung einer freizügigen Szene kamst, haben sie 17 mal "nein" gesagt, bis dann doch ein "okay" kam. So eine Tortur kann und will ich mir heutzutage nicht mehr zumuten. Also drehe ich lieber in Europa. Ich komme ja aus der niederländischen Tradition des Filmemachens. Da konnten wir schon in den 1970er Jahren zeigen, wie jemand auf dem Klo sitzt oder ein natürlich nacktes Paar handfesten Sex hat. Und einige dieser Filme gelten heute als Klassiker. Es war also nicht so verkehrt, die Wahrheit zu zeigen.

 Marc Hairapetian: Warum unterzieht sich Hollywood immer noch dieser Art von Selbstzensur?

 Paul Verhoeven: Es geht nur um Geld, Geld, Geld! Man will nur Filme herstellen, die möglichst alle sehen können, also vom Kleinkind bis zum Rentner, um die große Kasse zu machen. Bloß nicht verstören oder zum Nachdenken an- und erregen!

 Marc Hairapetian: Auch im Fernsehen können Kinder schon mittags Schießereien mit explodierenden Köpfe sehen, aber nicht wie zwei Menschen sich lieben. Warum ist Sexualität ein größeres Tabu im Film als Gewalt?

 Paul Verhoeven: Interessante Frage. Ich versuche es ja, in meinen Filmen zu enttabuisieren. In vielen meiner Filme ist Sex ein Thema und Gewalt kommt auch häufig vor, wie auch die Verbindung zwischen beiden. Das ist natürlich nichts für Kinder, aber etwas für Erwachsene. In der Realität sollte Sex mit Gewalt nichts zu tun haben. Aber selbst, sich zu verlieben, gehört zur Evolution, um letztendlich genügend Babies zu produzieren. Sexualität ist der Imperativ des Lebens! Ohne Sexualität würden wir beide nicht hier sitzen. Wir wären gar nicht da. Niemand von uns. Warum soll es so besonders oder gar seltsam sein, hier darüber zu reden oder sie im Film zu zeigen, wenn sie die Essenz des Lebens ist? Und die Welt ist leider auch gewalttätig. Das Universum ist extrem gewalttätig. Dank des wunderbaren Hubble-Weltraumteleskops können wir das auf Fotos in Büchern, Zeitungen, Magazinen oder im Internet sehen, wie die eine Galaxie die andere förmlich verschlingt. Und so verhalten wir uns im gewissen Sinn auch als Menschen. Gewalt dominiert unser Tun. Sehen Sie all die Kriege! Das soll unsere Zivilisation sein? Natürlich gibt es noch anderen wichtige Dinge im Leben, allen voran Freundschaft und die Versuche, einander zu helfen, ein positives Mitleid, wenn man mit jemand, der leidet, mitleidet. Als Künstler ist es doch die Aufgabe, sich darum zu kümmern, worum es in der Welt geht. Sex gehört genauso dazu wie die internationalen politischen Verhältnisse in den Nachrichten.

 Marc Hairapetian: Sie haben mit "RoboCop", "Die totale Erinnerung - Total Recall", "Starship Troopers" und "Hollow Man - Unsichtbare Gefahr" gleich vier Science-Fiction-Klassiker in Hollywood gedreht. Wenn man Sie wie eben reden hört, würden Sie - wie es jetzt Terrence Malick in "Voyage of Time: Life´s Journey" getan hat - auch einen Film über die Entstehung und den Untergang des Universums drehen?

 Paul Verhoeven: Er hat ja eine Dokumentation gedreht, die ich leider noch nicht gesehen habe. Als Spielfilm stelle ich mir das schwierig vor. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich einen Film über das nächste Jahr machen könnte bei der Entwicklung in den USA mit Donald Trump als Präsident!
Also, was wird in 20 Jahren, 100 Jahren oder 100.000 Jahren sein? Das Gehirn ist nicht in der Lage, soweit zu projizieren, was wissenschaftlich und vor allem medizinisch sein wird. Unser "Gehirncomputer" ist nicht in der Lage, weiter als 10, maximal 20 Jahre voraus zu schauen. Noch nicht mal in 20 Milliarden Jahren ist das Ende des Universums "in Sichtweite". Um das in einem Spielfilm zu thematisieren, muss man ein Genie sein!

 Marc Hairapetian: So wie Stanley Kubrick, der schon 1968 in "2001: Odyssee im Weltraum" philosophisch-metaphysische Fragen stellte und dazu bis heute noch nicht übertroffene Bilder lieferte?

 Paul Verhoeven: Genau, ich mag diesen Film sehr. Eigentlich ist es mehr als ein Film. Wunderbar, wie er den Donau-Walzer von Johann Strauss eingesetzt hat, als wenn er extra für den Weltraum komponiert worden wäre. Oder das elegische Adagio für Violincello solo und Streicher aus der ersten "Gayaneh"-Suite von Aram Chatschaturjan, das die Einsamkeit im All perfekt untermalt. Nur das Ende mit dem Baby, dass auf die Erde blickt, habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden.

 Marc Hairapetian: Das "Star Child" könnte als die Wiedergeburt des Astronauten David Bowman interpretiert werden. Glauben Sie an Reinkarnation?

 Paul Verhoeven: Nein, aber der Tod ist vielleicht eine Alternative zum Leben, weil es so faszinierend sein könnte, was danach kommt. Die Energie geht doch im All nicht verloren.

 Marc Hairapetian: Also sind Sie nicht besonders religiös?

 Paul Verhoeven: Nein, überhaupt nicht. Ich bin kein Christ, erst recht kein Baptist, auch wenn die Glaubensgemeinde ihren Ursprung 1609 in Amsterdam hatte. Ich gehe nicht zur Kirche, aber ich studiere Jesus. Ja, ich bin ein Fan von Jesus! Die Mythologie des Christentums ist wunderschön. Bei den alten Griechen wohnten die Götter noch im Olymp. Bei den Christen ist zwar der eine Gott auch im Himmel zu Hause, aber durch die Gestalt seines Sohnes Jesus kommt er - wenn auch nur für kurze Zeit - auf die Erde, ist einer von den Menschen. Auch wenn das physikalisch unmöglich ist, gefällt mir diese fantastische Idee. Ich möchte gerne demnächst einen Film über Jesus machen - in einer modernisierten Art von Ingmar Bergmans "Das siebente Siegel".

 Marc Hairapetian: Kommen wir zum Ende nochmals auf "Elle" zu sprechen. Warum haben Sie die Vergewaltigungsszene aus der Sicht einer grauen Katze gezeigt?

 Paul Verhoeven: Ganz einfach, weil es Philippe Djian so in seinem Roman beschrieben hat. Ich bin eigentlich mehr Hundefreund, habe selbst einen Golden Retriever und einen Labradoodle. David Birke und ich haben uns den Kopf zerbrochen, ob wir die Vergewaltigung im Stil der James-Bond-Filme als Vortitel-Sequenz zeigen sollen. Doch das sie erst viel später kommt, ist viel schockierender. Isabelle Huppert wirkt als Karrierefrau die ersten 25 Minuten im Film nicht sehr sympathisch. Du willst sie als Zuschauer nicht zur Freundin haben. Dann erst sieht man aus den Augen einer Katze, was ihr angetan wurde. Dabei ist mir der Sound hier fast wichtiger als die Bilder. Als der Täter sehr laut beim Orgasmus stöhnt, hat die Katze genug gesehen und wendet sich ab. Es ist wie ein zynischer Kommentar von ihr als Raubtier: "Jetzt kommt nichts mehr. Ich kann gehen!" Das Opfer interessiert sie nicht. Aber der Zuschauer beginnt, aus Protest anders über Isabelles Charakter, den er vorher komplett abgelehnt hat, nachzudenken. Dank der Katze: Sie ist wirklich eine gute Schauspielerin gewesen!

Das Interview mit Paul Verhoeven führte Marc Hairapetian am 15. Dezember 2016 für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de / www.spirit-fanzine.de / www.spirit-fanzine.com