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"Die Politik des Verleugnens ist gescheitert!"

"Es ist unsere Geschichte": Fatih Akin im exklusiven Interview über seinem Film "The Cut" (deutscher Kinostart: 16. Oktober 2014) und den Völkermord an den Armeniern

Von Marc Hairapetian

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"Der Zufall ist der Schnittpunkt mehrerer Notwendigkeiten", hat der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec einmal gesagt. Als ich im Jahr 2002 in Hamburg-Altona meinen Freund, den Schauspieler Mathieu Carrière besuchen wollte, sprach ich auf dem Weg dorthin mit einem Bekannten, der mich begleitete, über Felix Werner, den in den USA und der Schweiz lebenden Independent-Produzenten und Sohn des unvergessenen Schauspieler-Genies Oskar Werner. Felix hatte mir gegenüber bekundet, dass er vom Spielfilmdebüt "Kurz und schmerzlos" (1998) eines in Hamburg lebenden, türkisch stämmigen Jungregisseurs namens Fatih Akin begeistert gewesen wäre, und mich dann gefragt, ob ich zu einer Kontaktaufnahme behilflich sein könnte. Ich kannte Akin nicht persönlich und fragte meinen Bekannten, ob er vielleicht wüsste, wie ich an ihn herantreten könnte. Seine Antwort lautete lapidar: "Warum fragst Du ihn jetzt nicht selbst?" "Wie meinst Du das?", entgegnete ich verdattert. "Er steht da gerade an einem Tisch in dem kleinen Café vor uns.", meinte mein Bekannter. In der Tat. Durch das große Ladenfenster konnte ich es sehen: Fatih Akin, mit Jeans und Bomberjacke bekleidet, war gerade in das Gespräch mit einem seiner Mitarbeiter vertieft. "Jetzt oder nie!", dachte ich mir - und schritt kurzentschlossen ins Café und sprach Fatih Akin an.
Größere Ansicht anzeigen  Nachdem ich mich vorgestellt hatte und ihm von Felix Werners Anliegen erzählt hatte, wollte ich etwas von dem freundlich reagierenden Cineasten wissen, dass mich als Deutsch-Armenier schon lange beschäftigt hatte: Wäre er als Türke, der in seinen Filmen Multikulturalität und Völkerverständigung so unverkrampft auf die Leinwand brachte, interessiert, auch einen Film über das Reizthema "Genozid an den Armeniern" in Angriff zu nehmen? Kurz zuvor hatte ich nämlich mit dem ebenfalls in Hamburg lebenden Produzenten Ottokar Runze geredet, dem bei seiner geplanten Verfilmung von Franz Werfels großem Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" gerade Regisseur Ivan Passer und der Ausführende Produzent Milos Forman abzuspringen drohten. Fatih Akin zeigte sich der Idee gegenüber sehr aufgeschlossen und meinte, dass er Werfels Roman von seinem Produzenten zum Geburtstag geschenkt bekommen hätte.
 Nun, zwölf Jahre später, hat er weder einen Film mit Felix Werner, dessen Vater Oskar Werner er sehr schätzt, gemacht, noch "Die 40 Tage des Musa Dagh" verfilmt. Doch er hat wirklich einen epischen Film über den Völkermord an den Armeniern gedreht: "The Cut" ist nicht nur nach "Gegen die Wand" (Goldener Bär der Berlinale und zwei Europäische Filmpreise als "Bester Film" sowie den Publikumspreis für die "Beste Regie" im Jahr 2004) und "Auf der anderen Seite" (ein Europäischer Filmpreis für das "Beste Drehbuch" 2007 und vier Deutsche Filmpreise 2008) der Abschluss seiner Trilogie "Liebe, Tod und Teufel", sondern auch der Film auf den Armenier in aller Welt so lange gewartet haben: Das um schonungslose Wahrheit bemühte Meisterwerk eines hochtalentierten türkischen Regisseurs über die Gräuel an der christlichen Minderheit im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 bis 1918.
Größere Ansicht anzeigen  Anhand des fiktiven Einzelschicksals des armenischen Schmieds Nazaret Manoogian (eindrucksvoll verkörpert von Tahar Rahim), der fast seine ganze Familie bei den Deportationen in die syrische Wüste verliert, wird der erste Genozid des 20. Jahrhunderts beleuchtet, wie es zuvor vielleicht nur die Brüder Taviani mit "Das Haus der Lerchen" (2007) getan haben. Beide Filme sind hart bis an die Schmerzgrenze, in beiden Filmen wirkte neben einer internationalen Schauspielerschar, darunter Armenier und Türken, auch Fatih Akins enger Freund Moritz Bleibtreu mit.
 Für unser Interview nahm sich Fatih Akin im Berliner Soho House sehr lange Zeit. Am Abend besuchte er sogar noch mit mir zusammen die mittlerweile 90jährige armenische Schauspieler-Legende Krikor Melikyan, dessen Großeltern beim Völkermord umkamen und der Ende der 1940er Jahre in Gustaf Gründgens berühmter "Faust"-Inszenierung zusammen mit Horst Caspar, Antje Weisgerber und Gustaf Gründgens auf der Bühne stand. Eine unvergessliche Begegnung mit erhöhten Gesprächsbedarf. Und vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Marc Hairapetian: Fatih, Du bist "waschechter" Hamburger mit türkischen Wurzeln. Wann bist Du das erste Mal mit dem Thema "Völkermord an den Armeniern" konfrontiert worden?

Fatih Akin: Ich weiß, es nicht mehr ganz genau. Das muss in der Schulzeit als später Teenager gewesen sein. Ich erinnere mich, dass ich einen reflexartigen Mechanismus hatte: "Das kann nicht wahr sein! Meine türkischen Landsleute machen so etwas nicht!" Dann bin ich auch recht schnell mit der Lüge von staatlicher Seite, die ja bis heute aufrecht erhalten wird, konfrontiert worden. Das hat mich dann neugierig gemacht. Diese Hysterie um dieses Thema und diese aggressive Abwehrhaltung! Ich habe dann nicht die türkische Haltung verteidigt, aber ich habe gemerkt, ich muss mich darüber informieren, weil soviel Aggression, aber auch Angst von türkischer Seite da war. Seitdem habe ich eigentlich alles, was ich zum Thema zwischen die Finger bekommen konnte, versucht zu lesen. Gar nicht so sehr mit der Absicht, irgendwann darüber einen Film zu machen. Das kam erst später. Wichtig war, sich erst einmal Wissen anzueignen. Entscheidend war eigentlich durch meine Reisen von Hamburg aus die Entdeckung der Türkei und der Leute, die ich dort kennengelernt habe. Menschen aus gewissen Künstler- und intellektuellen Kreisen, die meinten: "Ja, natürlich, das hat es gegeben, aber man kann nicht darüber reden." Ich muss es so sagen: Der Völkermord an den Armeniern, den meine Landsleute begingen, war ein Aufwacherlebnis für mich.

Größere Ansicht anzeigen Marc Hairapetian: Ein Aufwacherlebnis, dass schließlich über lange Umwege in den Film "The Cut" mündete. Solltest Du nicht aber zuvor Franz Werfels 1933 erschienenen und in Deutschland sofort verbotenen Armenien-Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh", der aufgrund von massiven diplomatischen Interventionen der Türkei über Jahrzehnte nicht in Hollywood realisiert werden konnte, verfilmen?

Fatih Akin: Zur Zeit von "Auf der anderen Seite", was ja auch schon sieben Jahre zurückliegt, kam Regisseur und Produzent Ottokar Runze mit dem Projekt auf mich zu. Er wollte selbst nicht Regie führen, sondern nur produzieren. Ich kannte Werfels Roman schon zuvor. Ralph Schwingel von Wüste Film hatte ihn mir Ende der 1990er Jahre zum Geburtstag geschenkt. Ich verschlang das Buch regelrecht, so dass Ralph sagte: "Vielleicht machst Du irgendwann auch einen Film darüber!" Als Ottokar Runze dann damit kam, verschreckte er mich eigentlich, weil er sagte: "Ich habe schon das Drehbuch. Ich habe auch die Hauptdarsteller." Er hatte es so eilig. Später erfuhr ich dann, dass er die Verfilmungsrechte nicht mehr solange besitzen würde.
 Das ist ja ein Dinosaurier von einem Buch. Da gehst du nicht einfach so raus und drehst das, vor allem nicht mit der bescheidenen Erfahrung, die ich damals hatte. Ich habe abgelehnt. Auch jetzt würde ich mich nie auf so etwas einlassen, egal von wem es kommt, wenn es heisst: "Hier ist alles fertig. Du musst nur noch ´Action!´ und ´Cut!´ rufen. Ich sagte ihm, dass ich ein eigenes Projekt hätte. Das war der Gedanke, einen Film über den armenischen Journalisten Hrant Dink, der 2007 vor dem Istanbuler Verlagshaus der türkisch-armenischen Zeitung Agos von einem türkischen Attentäter erschossen wurde, zu machen.

Marc Hairapetian: Im Abspann hast Du ja Hrant Dink auch als einem Deiner "Lehrer" gedankt. Kanntest Du ihn persönlich?

Fatih Akin: Ich kannte ihn leider nicht, habe aber nach seiner Ermordung seine Familie getroffen. Ich wollte einen Spielfilm in der Tradition von Todd Haynes über ihn machen. Es gibt ein von Günter Seufert übersetztes Buch mit Texten von Hrant Dink. Es heisst "Von der Saat der Worte" - und so wollte ich meinen Film auch nennen. Einige der ausgesuchten Artikel und Essays von Hrant waren sehr sachlich und mit Statistiken versehen, andere sehr märchenhaft. So die im Jahr 1915 angesiedelte Geschichte von einem Mann, der sich selbst beschneiden muss, um sich vor dem Mob zu schützen. Andere Texte handeln von Hrants Gefühlen um die Morddrohung herum oder seine Jugend in Waisenhäusern. Es sollte ein anekdotenhafter Film werden, indem der Völkermord an den Armeniern natürlich auch thematisiert wird.  Eines war mir dabei sehr wichtig: Ich wollte immer einen türkischen Film daraus machen. Unser Land war lange immer politisch übervorsichtig nicht nur gegenüber Armenien, sondern auch gegenüber dem Westen gewesen, was die Annäherung zwischen der Türkei und Armenien betrifft. Das Thema Völkermord wurdehäufig von anderen Nationen als Spielball von diplomatischen politischen Beziehungen benutzt. Nach dem Motto: "Wenn die Türken das und jenes nicht machen, sagen wir, es war ein Völkermord!" Israel beispielsweise hat den Völkermord an den Armeniern bis heute nicht anerkannt. Wenn der Antisemitismus in der Türkei wieder zu hoch wird, dann spielen sie schnell die Völkermordkarte. Dieses taktische Kalkül hat Hrant Dink immer total abgelehnt. Meine Idee war es, die Philosophie von Hrant Dink zu übertragen, d.h. man macht einen Film mit türkischen Geld, der einen türkischen Cast und eine türkischen Crew mit türkischen Technikern, Cutter und Kameramann hat. So als eine Art Ausdruck, es "von dort" zu machen. So hätte es Hrant vielleicht gewollt.

Größere Ansicht anzeigen Marc Hairapetian: Schwebte Dir denn wie bei Runzes "Musa Dagh"-Vorhaben schon ein bestimmter Hauptdarsteller dafür vor?

Fatih Akin: Ja, es war für einen bekannten Schauspieler konzipiert, der ihm ähnlich sah. Ich kann den Namen nicht nennen. Er war früh involviert, doch er hat dann das Drehbuch als zu radikal empfunden und angedeutet, dass er Schwierigkeiten dafür bekommen könnte. Da war ich sehr enttäuscht. Schauspieler sind meine Leinwände, auf denen ich malen kann, um meine Projekte weiter zu entwickeln Ich habe dann fünf, sechs alternative Akteure getroffen und sie haben alle aus ähnlichen Gründen abgelehnt. Ich habe das irgendwann der Zeitung Agos erzählt. Es gab dann ganz viele Tweets, in denen Schauspieler schrieben: "Warum hast Du mich nicht gefragt?" Ok, vielleicht hätte ich irgendwann noch einen Schauspieler gefunden, aber ich habe dann gemerkt, dass die Gesellschaft wahrscheinlich noch nicht reif genug ist, mit solch einen Film umzugehen. Ich habe es jedenfalls als Schicksalsschlag empfunden. Ich wollte vor allem niemanden in Schwierigkeiten bringen. Ich bin hier in Deutschland in Sicherheit und eben nicht tagtäglich auf den Strassen von Istanbul, wo man mit Sicherheit den einen oder anderen Spruch vom Pöbel abkriegt oder eine Prügelei, vielleicht auch mehr. Deshalb habe ich von dem Projekt abgelassen.

Marc Hairapetian: Wie bist Du dann auf "The Cut" gekommen?

Fatih Akin: Ich habe dann ein viel älteres Projekt von Griechen, die in die USA gehen, wieder aus der Schublade genommen - und ich habe aus Griechen Armenier gemacht. 1922 gab es ja den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, indem mittels internationalem Vertrag alle anatolischen Griechen zurück nach Griechenland zurückgehen müssen und alle muslimischen Einwohner Griechenlands nach Anatolien. Doch das Thema Griechen und Türken ist erschöpft. Da ist kein Klärungsbedarf mehr. Es gibt nicht mehr diese Feindschaft zwischen Griechen und Türken. Höchstens noch unter Ultranationalisten, aber in der Gesellschaft ist das eigentlich aufgehoben. Ich dachte, dass, wenn ich meine Geschichte nach 1915 lege und der Held eben Armenier ist, dann könnte ich vielleicht einen Film machen, wo die Gesellschaft schon reif für ist, vor allem in der Türkei. Ein Film, den ich selber gerne sehen würde. Das ist die Odyssee von "The Cut", der aus der Sicht des armenischen Schmieds Nazaret Manoogian erzählt ist, der während des Völkermords im Osmanischen Reich Großteile seiner Familie verliert, aber am Ende über Kuba in die USA gelangt, um dort zumindest eine seiner beiden Zwillingstöchter lebend wieder zu finden.

Marc Hairapetian: Diese Odyssee hat insofern auch mit Regietitan Elia Kazan zu tun, der 1963 den genialen Film "America, America - Die Unbezwingbaren" über Griechen und Armenier gemacht hat, die Ende des 19. Jahrhunderts aus Anatolien vor den Türken fliehen. In mehreren Szenen erweist Du Kazan, den ich noch persönlich kennenlernte durfte und der mir sagte "Um Filme zu machen, braucht man die Kraft eines wilden Tieres", Deine Referenz.

Größere Ansicht anzeigen Fatih Akin: Kazans Film stand Pate für "The Cut". Deswegen war auch Martin Scorsese sehr involviert. Als New Yorker hatten Sie einen regen Austausch. Scorsese drehte vor vier Jahren mit "A Letter to Elia" zusammen mit Kent Jones einen einstündigen Dokumentarfilm. Was Kazan für Scorsese ist, das sind Martin Scorsese und mein armenischer Ko-Drehbuchautor Mardik Martin für mich. Er hat ja für Scorsese die Drehbücher zu "Hexenkessel", "New York, New York" und "Wie ein wilder Stier" geschrieben. Scorsese, der zusammen mit mir und meinem Hauptdarsteller Tahar Rahim, "The Cut" angesehen hat, hat immer diese Kazan´sche Ebene in meinem Film gesehen. Sein Lehrer für Filmkunst an der New York University war übrigens auch ein Armenier namens Manoogian. Nach ihm habe ich meinen Protagonisten genannt. So schließen sich die Kreise.  Es gibt auch eine Einstellung in "America, America", da muss Stathis Giallelis um Geld zu verdienen, in einer Küche abwaschen. Eine ähnliche Kamerazufahrt gibt es auf Tahar Rahim in "The Cut", wenn er versucht, in Havanna zu überleben.

Marc Hairapetian: Du hast Dich sehr in die Materie des Völkermords an den Armeniern eingelesen. Kennst Du auch die anderen Filme über diese Thematik wie Atom Egoyans "Ararat" und "Das Haus der Lerchen" von den Brüdern Taviani? Arsinée Khanjian, die in beiden Werken mitgespielt hat, spielt bei Dir eine kubanische Exil-Armenierin. Auch Simon Abkarian, der in "Ararat" zu sehen war, wirkt in "The Cut" mit. Und Moritz Bleibtreu, der sich als türkischer Soldat im "Haus der Lerchen" während der Deportation in ein von Paz Vega verkörpertes armenisches Mädchen verliebt, hat bei Dir wieder eine kleine Rolle übernommen.

Fatih Akin: Ich habe sie alle gesehen - und ich habe zu allen einen persönlichen Bezug, weil auch "The Cut" Teil eines Projektes ist, den Völkermord an den Armeniern nicht nur in der Türkei, sondern auch global zu reflektieren. Es geht ja nicht nur darum, was in der Türkei nicht geschehen ist - und der Rest der Welt sagt: "Das ist ein Völkermord!" Das ist leider nicht der Fall. Es gibt einige Länder wie Kanada, Frankreich und den Libanon, die den Völkermord offiziell anerkennen. Viele Staaten inklusive der Bundesrepublik Deutschland haben den Terminus "Völkermord" bisher vermieden. Es geht mir nicht um eine politische Agenda, in der ein Land wie die Türkei den Völkermord zugeben muss. Das müssen die Länder selbst für sich entscheiden. Es geht darum, dass man ein Klima der Reflexion und ein Klima der Anerkennung mit Querverbindungen zwischen den Völkern schafft. Diese Filme sehe ich als Teil eines NGO (zu Deutsch: NRO - Nichtregierungsorganisation), also eines globalen, humanen Aufarbeitungsprozesses. Dieses Anliegen teilen auch Arsinée, Simon und Moritz mit mir.

Marc Hairapetian: Lange Zeit wurde der Völkermord an den Armeniern in den türkischen Geschichtsbüchern nicht erwähnt. Wie sieht es heute damit aus?

Fatih Akin: Wenn überhaupt, wird der Völkermord leider immer noch falsch dargestellt. Dennoch ist die türkische Gesellschaft dem Thema jetzt viel aufgeschlossener gegenüber.

Marc Hairapetian: Erstaunlich, dass Du Dich nicht wie viele andere türkische oder auch nicht-türkische Künstler herum windest, sondern gezielt das Word "Völkermord" in den Mund nimmst.

Größere Ansicht anzeigen Fatih Akin: Es gibt ein Schlüsselerlebnis dazu. Das Buch "1915 - Der Völkermord an den Armeniern" von Hasan Cemal, dem Enkel von Cemal Pasha, der als Mitglied des aus Talat Pascha, Enver Pascha und ihm bestehenden Triumvirats maßgeblich für den Völkermord an den Armeniern verantwortlich war. Es erschien 2012. Als ich in Istanbul war, habe ich es wirklich in jeder Buchhandlung im Schaufenster gesehen. Da habe ich erfreut registriert, dass die türkische Gesellschaft inzwischen emanzipiert genug ist für ein Buch, das solch einen Titel haben kann - und nicht sofort wieder Paragraph 301 zur "Verunglimpfung des Türkentums" bemüht wird. Das wiederum hat alles mit der Ermordung Hrant Dinks zu tun.

Marc Hairapetian: Damals sind viele Türken in Istanbul auf die Strasse gegangen sind, um zu skandieren: "Wir sind alle Hrant Dink! Wir sind alle Armenier!"

Fatih Akin: Es war eine Katharsis. Man kann es leider Gottes nicht anders ausdrücken. Ich wünsche es niemanden, ein Märtyrer zu sein, aber Hrant war dann wirklich ein Märtyrer, der eine Katharsis freigesetzt hat, die klar gemacht hat, dass die Politik des Schweigens, und die Politik des Verleugnens gescheitert sind. Es gibt in der Türkei offiziell vielleicht nur 80.000 Armenier und die werden nicht alle auf die Strasse gegangen sein, weil viele von denen einfach vorsichtig sind. Als Balkon-Armenier" sehen sie sich das Geschehen auf der Strasse an. Es waren bei den Protestmärschen für Hrant um die 100.000 Leute unterwegs.

Marc Hairapetian: Ist die "Dunkelziffer" der Armenier in der Türkei aber nicht bedeutend höher?

Fatih Akin: Ich rede von Leuten, denen klar ist, dass sie Armenier. Von "Dönme", also Konvertiten, die den Islam angenommen haben, rede ich nicht. Diese Thematik gab es schon in John Fords Western "Der schwarze Falke" (Originaltitel "The Searchers"), wo ein weißes Mädchen von Indianern entführt wird und Jahre später ist sie Armenierin. Mensch, das war jetzt eine freudsche Fehleistung! (lacht) Ich meine natürlich Indianerin.

Marc Hairapetian: Apropos: Indianer. In einer der beklemmendsten Szenen von "The Cut" rettet der Armenier Nazaret Manoogian später in North Dakota ein indianisches Mädchen vor der Vergewaltigung und wird dafür von seinen rassistischen Arbeitskollegen als "Scheißjude" fast zu Tode geprügelt. Wie schafft man es so viele Analogien zum Thema Rassismus in einem Film unterzukriegen?

Größere Ansicht anzeigen Fatih Akin: Vielleicht weiss der Film zu viel. Vielleicht bin ich zu sehr in der Materie und Du weist auch viel darüber - und deswegen findet es bei Dr Anklang. "The Cut" findet aber zum Glück auch Anklang bei Leuten, die ihn "nackt" gucken. Viele Anspielungen im Film sind für Insider eingebaut. Manche denken, wenn ein Kranich durch die Luft fliegt, ist das einfach nur märchenhaft, aber der Kranich hat eine Symbolfunktion für die Armenier. Die wichtigsten Bücher zum Thema Völkermord an den Armeniern haben auch so einen Zug wie zum Beispiel "Das Märchen vom letzten Gedanken" von Edgar Hilsenrath. Da ist das inbegriffen, verflixt! Oder Franz Werfels "Die 40 Tage des Musa Dagh" mit seinem biblisch-ikonographischen Bezüge. Manchmal weiss auch ein Film mehr als seine Zuschauer.

Marc Hairapetian: Warum gab es bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig gerade von deutschsprachigen Medien einige negative Kritiken zu "The Cut"?

Fatih Akin: Manche mir bekannte Journalisten - ohne jetzt Namen zu nennen - haben den Film im Festivalstress nicht ganz oder gar nicht gesehen, mussten aber für ihre Sammelkritiken eine Einschätzung abgeben. Wenn man mit dem Arsch guckt, schreibt man auch mit dem Arsch. Das kannst Du auch so zitieren.

Marc Hairapetian: Was hingegen einer wirklichen Sensation gleich kommt, ist, dass "The Cut" einen offiziellen Filmstart in der Türkei bekommen soll. Wann wird das sein?

Fatih Akin: Im Dezember.

Marc Hairapetian: Wird der Film wirklich ungeschnitten in die türkischen Kinos kommen?

Fatih Akin: Absolut ungeschnitten.

Marc Hairapetian: Hoffentlich kriegst Du dann nicht Schwierigkeiten.

Fatih Akin: Wenn es dem Marketing dient...

Marc Hairapetian: Im Ernst. Hast Du nicht schon vorab für "The Cut" Drohungen erhalten?

Fatih Akin: Die Zeitung Agos, hat einen Tweet erhalten, dass radikale, ultranationalistische türkische Kreise versuchen werden, den Filmstart zu verhindern.

Marc Hairapetian: Aber Angst hast Du nicht? Sogar meine Mutter hat ausrichten lassen, dass Du auf Dich aufpassen sollst.

Fatih Akin: Danke, aber nein, ich habe keine Angst. Wenn man so viele Jahre an einem Film arbeitet, dann lernt man auch damit umzugehen.

Größere Ansicht anzeigen Marc Hairapetian: Entgegen manchen Kritikerstimmen zeigt Dein Film nicht das übliche Gut- und Böse-Schema, sondern bricht es sogar auf oder zeigt es differenziert. Bei der schrecklichen Szene der Massentötung von armenischen Männern, ist ein Türke nicht in der Lage, Nazaret die Kehle zu durchschneiden. Er verwundet ihn nur schwer und hilft nachts dem aus seiner Ohnmacht Erwachenden zur Flucht. Nazaret ist fortan stumm und der Türke bittet ihn später um Verzeihung und schenkt ihm seine Stiefel.

Fatih Akin: Die Stiefelszene ist auch eine Anspielung auf "America, America", wo der an Tuberkulose erkrankte armenische Junge, der die Überfahrt ins Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten nicht überleben wird, seinem griechischen Freund seine Schuhe schenkt. Hayk Demoyan, der Direktor des Genozid-Museums in Jerewan, sagte mir bei meinem Besuch dort: "Ohne die türkischen Familien, die verfolgte Armenier bei sich versteckten, wären wir alle nicht da." Diesen Aspekt wollte ich auch in "The Cut" andeuten. Demoyan gab mir auch zum Studium die Tagebücher von Armeniern mit, die in Havanna versuchten, sich eine neue Existenz aufzubauen. Das wissen heute selbst viele Armenier nicht mehr, dass ihre Landsleute über den Seeweg nach Kuba flüchteten.

Marc Hairapetian: "The Cut" ist mit 16.000 Millionen Euro der teuerste Film, den Du je gemacht hast. War es schwer, das Budget dafür aufzutreiben?

Größere Ansicht anzeigen Fatih Akin: Ich hatte einen Produzenten, den Karl "Baumi" Baumgartner, das war ein großer Mann, der sich überhaupt nicht wie ein typischer Filmproduzent gebärdete, sondern ein echter Kunstliebhaber war. Er hatte das Talent 16 Millionen Euro aus aller Welt aufzutreiben, aber so, dass wenn der Film nicht erfolgreich wird, ich nicht verschuldet dabei rausgehe. Dafür bin ich sehr dankbar.

Marc Hairapetian: Nicht nur er verstarb in diesem Jahr, sondern auch während der Dreharbeiten Ko-Produzentin Fabienne Vonier. "The Cut" bildet nach "Gegen die Wand" und "Auf der anderen Seite" den Abschluss Deiner Trilogie "Liebe, Tod und Teufel. Gab es nicht - ausgerechnet beim Drehen des "Teufel"-Parts - Momente, wo man sich fragte, kann ich diesen Film überhaupt noch zu Ende führen? Oder sagt man sich: Jetzt erst recht?!

Fatih Akin: Es war sehr schwierig. Niemand konnte ja ahnen, dass sie sterben während der Produktion, Fabienne hatte seit sieben Jahren Krebs , dennoch war der Zeitpunkt ihres Todes unerwartet. Aber Baumi war während der Dreharbeiten noch in Kuba und Kanada mit dabei. Dann sind wir nach Jordanien, da konnte er nicht mehr. Er verstarb am 18. März. Die beiden fehlen mir sehr.

Marc Hairapetian: Dein Film zeigt den Völkermord an den Armeniern in all seiner Grausamkeit. Wie geht man beim Drehen mit solchen Szenen um? Macht einen das nicht fertig?

Größere Ansicht anzeigen Fatih Akin: Deir ez-Zor in Syrien war das Auschwitz der Armenier. Damals war dort ein Konzentrationslager, heute ist es eine Tourismusstadt nach amerikanischen Zuschnitt. Ich war da vor den Dreharbeiten zur Recherche, weil wir diese Todeslager nachkreieren mussten. Es gibt nur wenige Quellen. So existieren beispielsweise vom Lager in Ra´s al-Áin keine Fotos, aber zumindest von Deir ez-Zor. Ich war 2011 dort. Ich kam in die Stadt, die am Euphrat liegt. Aber die Todeslager, die KZs, waren eine Stunde weiter draußen. Wir fuhren mit dem Auto - nur Wüste, Wüste, Wüste! Dann kam eine Kathedrale, die erst vor geraumer Zeit zerbombt wurde. Da passte ein Beduine darauf auf. Eine Art Hausmeister. Er war vielleicht 70. Seine Mutter, eine Armenierin, überlebte die Todeslager. Sein Vater war Beduine, der sie dann dort raugeholt und geheiratet hatte. Wir stehen also im Hof der Kirche - vor uns der Hausmeister. Es gibt da an diesem Ort den sogenannten "Berg der Knochen". Ich frage ihn: "Wo ist denn der Berg?" Er zeigt auf einen vor uns liegenden Sandhügel. "Das ist der Berg der Knochen!" Er bückt sich herunter und zieht unvermittelt ein Stück menschlichen Knochen von einem Ellbogen heraus: "Das ist damit gemeint." Das hat mich mitgenommen. Wir sind dann zurück nach Aleppo, fünf Stunden Fahrt mit dem Auto. In der Nacht bin ich krank geworden und habe ich die Ruhr bekommen. In Deir ez-Zor sind ja damals viele an der Ruhr gestorben. Ich will nicht sagen, dass es die Ruhrbakterien von damals waren, die auf mich übergingen. Aber alles, was ich gelesen und gesehen hatte, kam in dieser Nacht hoch. Das war meine Katharsis. Beim Dreh selbst, war ich total abgeklärt und konzentrierte mich darauf, ob beispielsweise das Licht stimmt.

Marc Hairapetian: Die Fotos, die wir heute vom Völkermord an den Armeniern kennen, machte unter Lebensgefahr der expressionistische Schriftsteller Armin T. Wegner, der damals mit einer deutschen Sanitätsexpedition ins Osmanische Reich kam. Später schrieb er in Deutschland einen Brief an Hitler, wo er das Schicksal der Juden mit den Armeniern verglich. Dafür kam er ins KZ, das er überlebte. Heute ist er im Bewusstsein der Öffentlichkeit fast vergessen.

Größere Ansicht anzeigen Fatih Akin: Ich kenne seine Bilder und sein schriftstellerisches Werk. Es liegt an Leuten wie Dir, nicht nur im Zuge des Films, so etwas publik zu machen. Eigentlich müsste Wegner und seine Arbeit Zugang zu den deutschen Geschichtsbüchern haben.
Ich werde so viel kritisiert für "The Cut", weil man heute nicht mehr viel weiss über den Völkermord an den Armeniern, während man vieles über den Holocaust weiss. Mir wird vorgeworfen: Warum erklärt der Film nicht, warum die Türken das tun? Wenn man Roman Polanskis "Der Pianist" oder Steven Spielbergs "Schindlers Liste" sieht, wird auch nicht gezeigt, warum die Nazis das tun. Die beiden Filme liefern dieses Wissen nicht. Man hat einfach das Wissen, weil das seit 60, 70 Jahren aufgearbeitet wird. Mich interessierte: Wie kann ich das aus den Augen von dem Schmied Nazarat erzählen? Der Schmied weiss während seines Martyriums nichts von 1,5 Millionen ermordeten Armeniern.

Marc Hairapetian: Du meinst, dass es auch nicht reichen würde, wenn Du beispielsweise Innenminister Talat Pascha, den Führer der Jungtürken, gezeigt hättest, wie er anordnet "Das Recht der Armenier auf dem Gebiet der Türkei zu leben und zu arbeiten, wird gänzlich abgeschafft"? Man hätte dann noch weiter zurückgehen müssen?

Fatih Akin: Richtig. Dann musst Du auch die Massaker unter der Regentschaft von Abdülhamit II. zu Ende des 19. Jahrhunderts zeigen, oder wie die Türken nach Anatolien gekommen sind. Ein zwölfstündiger Dokumentarfilm würde dem vielleicht gerecht werden. Dann hast Du vielleicht die Komplexität verstanden. Nun wird das eigene Unwissen vieler Feuilletonisten, ausgerechnet mir zum Vorwurf gemacht.
 Ein armenischer Journalist hat etwas Erschreckendes in der Armenian Weekly geschrieben, nachdem er den Film in Venedig gesehen hatte. Als er im Kino saß, musste ein neben ihm sitzender westlicher Journalist über eine Szene lachen, über die er selbst weinte. Er meinte: "Dass hat mir verinnerlicht, wie weit weg der Völkermord an den Armeniern schon ist." Mein Film ist nur ein Versuch, der Thematik gerecht zu werden.

Marc Hairapetian: Traurig, dass es für viele Medien schon soweit weg ist. Gerade hierzulande. Denn Hitler hat ja seine Juden-Politik und den Polen-Angriff, der den Zweiten Weltkrieg einleitete, mit den Worten begründet: "Wer denkt heute noch an das Schicksal der Armenier?" Du musst auf Deine eigene Stimme hören. "The Cut" ist ein um Wahrheit bemühter, sehr guter Film, auch unter cineastischem Aspekt.

Fatih Akin: Es geht mir auch um den Impuls, den ich beim Zuschauer auslösen möchte, sich nach solch einem Film weiter zu informieren. Haben wir denn heute alle keine Zeit mehr, in die Bibliothek zu gehen? Du bist Armenier. Ich bin Türke. Es ist unsere Geschichte. Deine und meine, unsere gemeinsame Geschichte. Wir müssen das zusammen aufarbeiten.



Das Interview mit Fatih Akin führte Marc Hairapetian für für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de am 29. September 2014 in Berlin.
Die Fotos von Marc Hairapetian, Krikor Melikyan und Fatih Akin machte Alex Adler für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-ein-laecheln-im-sturm.de