Das aufrechte Herz -
Zum Tod des gesamtdeutschen Schauspielers Ulrich Mühe

von Marc Hairapetian

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In einigen Nachrufen wurde er als „der Akteur Gesamtdeutschlands“ gewürdigt. Das hätte ihm gefallen, denn das Etikett „Ex-DDR-Schauspieler“ hat er nie gemocht. Doch Ulrich Mühe war mehr als ein „gesamtdeutscher Schauspieler“. Er war ein sich aus Startum überhaupt nichts machender europäischer Filmstar, der kurz vor dem Sprung zum Weltstar stand. Sein wohl größter Erfolg, „Das Leben der Anderen“, ist zugleich sein Vermächtnis: Unvergessen ist die Szene, in der er in Florian Henckel von Donnersmarcks Kinodebüt als Stasioffizier Gerd Wiesler mit ausdruckslos ausdruckstarken Augen zusammengesunken über Kopfhörer der Melodie lauscht, die aus der von ihm überwachten Wohnung kommt. Danach ist er nicht mehr wie zuvor: Er beginnt, seine unpersönliche Haltung zu ändern, er hinterfragt das politische System, dem er lange in blindem Gehorsam gedient hat. Für diesen von Kälte über Melancholie bis zur Couragiertheit sich wandelnden Part heimste Mühe zu Recht zahlreiche Auszeichnungen ein. Besondere Tragik des Schicksals: Am 2. Dezember 2006, dem Tag der Verleihung des Europäischen Filmpreises, bei der er als Bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, erhielt er die Diagnose seiner Krebserkrankung. Kurz nach der Oscar-Zeremonie 2007, bei der „Das Leben der Anderen“ als Bester ausländischer Film gegenüber dem eigentlichen Favoriten „Pan’s Labyrinth“ triumphierte, unterzog er sich einer schweren Operation. Schon in den 1970er-Jahren, als Wehrdienstleistender bei der Nationalen Volksarmee der DDR, hatte der zierliche Sachse Magengeschwüre. Ärzte entfernten zwei Drittel des Organs – eine Maßnahme, die zu Krebs führen kann. So musste er den Dienst an der Berliner Mauer vorzeitig abbrechen. Er studierte darauf an der Leipziger Theaterhochschule und erhielt 1979 im damaligen Karl-Marx-Stadt sein erstes Engagement. Später feierte er an der Volksbühne und am Deutschen Theater in Berlin große Erfolge. Mühe, der am 20. Juni 1953 in Grimma geboren wurde, war immer auch ein politischer Künstler, der - obwohl von eher zurückhaltendem Naturell - nie mit seiner Meinung zurückhielt. Im November 1989 demonstrierte er mit anderen Kollegen gegen das SED-Regime. Auch in seinem Privatleben blieb die DDR-Vergangenheit ein großes Thema. Mit seiner 2006 verstorbenen Exfrau Jenny Gröllmann stritt er vor Gericht, ob er sie als IM bezeichnen dürfe. Er durfte nicht, eine enttäuschende Erfahrung für Mühe. Als Schauspieler kannte er die Repressalien des DDR-Staates. Auf die Frage, wie er sich auf „Das Leben der Anderen“ vorbereitet hätte, sagte er schlicht: „Ich habe mich erinnert.“ Mühe, schmalwüchsig und von zerbrechlicher Eleganz, verstand es mühelos, in die unterschiedlichsten Rollen zu schlüpfen: Ob jugendlicher Held, Bühnentragöde, besorgter Familienvater, psychopathischer Entführer oder skrupelloser Karrierist – all seinen Figuren haftete immer etwas Melancholisches an. Mühe war ein ungemein intelligenter Schauspieler, von hoher Allgemeinbildung, der sorgsam seine Worte wählte und mit heiligem Ernst seiner Berufung nachging. „Hamlet ermittelt“ hieß es so auch treffend über seinen Gerichtsmediziner Doktor Robert Kolmaar, den er in 73 Folgen der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ (1998 – 2007) gab. Dem Medium Fernsehen stand er - trotz beeindruckender Auftritte in „Nikolaikirche“ (1995) oder „36 Stunden Angst“ (1998) - lange Zeit kritisch gegenüber. Nach seinem Leinwanddurchbruch als über Leichen gehender Emporkömmling Theodor Loose in Bernhard Wickis grandioser Joseph-Roth-Adaption „Das Spinnennetz“ (1989), bei der er sich von seinem Gegenspieler Klaus Maria Brandauer eine tatsächliche Tracht Prügel verabreichen ließ, „um den Film noch realistischer wirken zu lassen“, beinhaltete die Allianz mit seinem Lieblingsregisseur und intellektuellen Weggefährten Michael Haneke für ihn „persönliche Sternstunden“ : Die Gewaltpsychogramme „Benny’s Video“ (1992) und „Funny Games“ (1997) avancierten zu verstörenden Meisterwerken. 2002 brillierte er in Costa-Gavras’ Verfilmung des Rolf-Hochhut-Stücks „Der Stellvertreter“. Dass Mühe aber auch eine komödiantische Ader hatte, bewies er in „Schtonk!“ (1992), „Rennschwein Rudi Rüssel“ (1995) und in der Verwechslungskomödie „Goebbels und Geduldig“ (2001). Als Professor Adolf Israel Grünbaum, der dem von Helge Schneider chargierend verkörperten Hitler in Dani Levys allerdings nur halbwegs gelungener Persiflage „Mein Führer“ (2007) Schauspiel-Unterricht gibt, ragte er darstellerisch heraus. Auch als Sprecher von Hörspielen- und Audiobooks bürgte er für Qualität: Als Kohlen-Munk Peter in „Das Kalte Herz“ (Litera/BMG-Wort) demonstrierte er schon früh seine Wandlungsfähigkeit und (be)rührte Klein und Groß, seine Lesung von Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ (Patmos) steht der klassischen von Will Quadflieg in nichts nach. Sein letzter Film „Nemesis“, in dem er zusammen mit seiner Gattin Susanne Lothar vor der Kamera stand, befindet sich in der Postproduktion. Ulrich Mühe, der am 22. Juli in Walbeck (Sachsen-Anhalt) im Alter von nur 54 Jahren starb, hinterlässt fünf Kinder aus drei Ehen. Tochter Anna Maria ist ebenfalls Schauspielerin geworden. Die hoch gelobte Nachwuchsdarstellerin tritt das künstlerische Erbe ihres Vaters an, der zu den charismatischsten, aber auch integersten seiner Zunft gehörte.

Marc Hairapetian stand 1998 mit Ulrich Mühe in Jörg Grünlers Thriller „36 Stunden Angst“ vor der Kamera.



Marc Hairapetian