Laurence Harvey zum 75.

Laurence von Litauen

Seine Leinwandpartnerinnen küssten und fürchteten ihn: Der 1973 im Alter von nur 45 Jahren an einem Krebsleiden verstorbene Schauspieler Laurence Harvey war der Dandy des internationalen Films. Seine wirkliche Liebe aber galt dem Theater.

Von Marc Hairapetian

 

"Jung stirbt, wen die Götter lieben." Ein erhabener, seit den Tagen der Antike tröstender Gedanke, der den Schmerz der Hinterbliebenen ein wenig zu lindern sucht. In der nun schon über 100jährigen Geschichte der Kinematographie hat es im Lauf der Dekaden und in allen Ländern immer wieder Akteure gegeben, die auf der Höhe ihres Schaffens jäh aus dem Leben gerissen wurden. Auch der aus Litauen stammende Wahlbrite Laurence Harvey, dessen 75. Geburts- und 30. Todestag in diesem Jahr zusammenfallen, gehört zu jenen Künstlern, die wie Kometen am Kinohimmel erstrahlten, um viel zu früh zu erlöschen. "Vielseitigkeit" lautete seine Devise. Der sensible, mitunter nervös wirkenden Feingeist und Shakespear-Darsteller von Weltformat mit den schmalen Gesichtszügen wirkte in den unterschiedlichsten internationalen Produktionen mit:. Ken Hughes kongeniale Adaption von William Somerset Maughams Entwicklungsroman "Der Menschen Hörigkeit" (1963) und John Frankenheimers beklemmende Vorwegnahme des Kennedy-Attentats "Botschafter der Angst" (1962) zählen dazu, aber auch John Waynes aufwändiges Durchhalteepos "Alamo" (1960) und der Breitwand-Märchenfilm "Die Wunderwelt der Gebrüder Grimm" (1962). Nicht jede seiner rund 40 Rollen entsprach ihm, dessen Stärke mehr in der realistischen Verkörperung eines gebrochenen Charakters lag, als in der Interpretation eines makellosen Helden. Wenngleich er in den Filmen der jungen britischen Regisseure kaum mitgewirkt hatte, so war sein Darstellungsstil doch in jenem Klima beheimatet, das durch Autoren wie John Osborne und Regisseure wie Tony Richardson zu bezeichnen ist. Was Laurence Harvey aber unverwechselbar machte, war die ihm eigene Verbindung von Melancholie und Härte. Er konnte der sensible Scheiternde, aber auch der skrupellose Emporkömmling sein - oder sogar beides in einem. Die Rezensenten hassten und liebten ihn - die Frauen übrigens auch. Legendär sind die Auseinandersetzungen des vielfachen Herzensbrechers am Set mit jüngeren weiblichen Stars wie Sarah Miles, Lee Remick und Jane Fonda, die über ihn sagte: "Schauspielen mit Harvey ist wie mit sich allein zu spielen - nur schlechter", worauf Harvey konterte: "So etwas kommt nur von Schauspielerinnen, die kein Talent besitzen und unprofessionell sind. Mit ihrem Sexappeal versuchen sie ihr schlechtes Spiel zu übertünchen. Es ist unmöglich, sie zu verstehen, weil da nichts zu verstehen ist. Wenn man mit einer Frau zusammenarbeitet, sollte Sex keine Rolle spielen. Wenn man nicht mit ihnen zusammenarbeitet, ist Sex wichtig, aber nicht essentiell." Mit älteren Kolleginnen wie Simone Signoret oder Margaret Leighton, die er gar ehelichte, kam er hingegen bestens aus. In besonnenen Momenten geriet er über Frauen geradezu ins Schwärmen: "Sie sind göttliche, wundervolle, mysteriöse Geschöpfe. Auch wenn sie häufig kapriziös und unberechenbar sind und kein Mann verstehen kann, was in ihren Köpfen vorgeht, könnte ich ohne sie niemals leben. Das größte Geschenk, das Gott jemals einem menschlichen Wesen machte und an dem ich inständig hoffe, teilhaben zu dürfen, ist die Gnade ein Kind zu gebären." Die Teilhaberschaft wurde ihm verspätet erfüllt. Aus der Verbindung mit dem ehemaligen Fotomodell Pauline Stone stammt die gemeinsame Tochter Domino, die drei Jahre alt war, als ihr Vater an Krebs starb. Jene Pauline Stone war es auch, die nach der Scheidung von Harveys zweiter Ehe mit der Produzenten Witwe Joan Cohn seine private Fixierung auf "Mutter-Ersatz"-Figuren, "die einen mit ihrer maskulinen, gewalttätigen Art bevormunden wollen und mehr oder weniger bewusst das zerstören, was sie eigentlich lieben." löste. Ein Mann im Spannungsfeld zwischen verführerischen Nymphen und reiferen Damen - dies war nicht nur sein privates, sondern bei aller Vielseitigkeit auch weitgehend sein filmisches Schicksal. Harvey war der Dandy des internationalen Films, aber einer mit Tiefgang und Bildung. In Daniel Manns eleganten "Pretty Woman"-Vorläufer "Telefon Butterfield 8" (1960) ist er als Weston Liggett zwischen seiner reichen, selbstverständlich älteren Gattin Emily (Dina Merril) und dem lebenshungrigen Edel-Callgirl Gloria (Elizabeth Taylor) hin- und hergerissen. Unvergesslich wie er wie von Sinnen der Taylor auf dem High Way nachreist, um sie in einer Raststätte unter der verzweifelten Behauptung nur mit ihr "reden" zu wollen, stellt, was sie schlagartig die Flucht ergreifen und mit einem Wagen über eine Absperrung in den Tod rasen lässt. Mit Jack Claytons für die damalige Zeit sehr freizügigen Meisterwerk"Der Weg nach oben" (1959), dass das britische Free Cinema begründete, ging es auch mit Harveys Karriere steil aufwärts. Wieder befindet er sich zwischen zwei Frauen: der jungen und reichen, aber etwas biederen Heather Sears und der lebens erfahrenen, in ihrer Heruntergekommenheit immer noch schönen Simone Signoret. Das Streben zum Höheren führt den von Harvey verkörperten Ehrgeizling Joe Lampton am Ende aller Irrungen aus einer fatalen Mediokrität, einem peinlichen Plebejertum des Herzens, zu wirklicher Überlegenheit. In diesem Film gibt es keine Guten und keine Bösen, es gibt nur Menschen in ihren guten und bösen Augenblicken, Menschen, die sich lieben und sich doch mit ihren Worten steinigen, die in einem Atemzug heilen und zerstören, sich finden und sich vergessen. Die Szenen zwischen Simone Signoret und Laurence Harvey sind zwar innig, doch ohne jeglichen Anflug von Sentimentalität. Er bringt sie dazu, zu blicken, wegzublicken, aufzublühen und schließlich zu verfallen. Die schauspielerischen Glanzleistungen wurden mehrfach prämiert: Simone Signoret erhielt den "Oscar", für den Laurence Harvey ebenfalls nominiert war. Dieses Werk machte den ambitionierten jungen Mimen endgültig zum internationalen Star, obwohl er bereits in 21 (!) Filmen zuvor etliche Hauptrollen gespielt hatte. Harveys Weg zum Ruhm verlief abenteuerlich: Geboren wurde der Sohn jüdischer Eltern als Larushka Misha Skikne am 1. Oktober 1928 in der litauischen Stadt Joniskis. Als er vier Jahre alt war, zog seine Familie mit ihm nach Südafrika. Mit 15 spielte er erste kleine Rollen an einem Theater in Johannesburg. Kurz darauf ging er zum Militär und wurde Mitglied der südafrikanischen Truppenbetreuung. Im Zweiten Weltkrieg war im Mittleren Osten, Italien und Österreich stationiert, wo das Sprachentalent auch seine Deutschkenntnisse perfektionierte. Mit Hilfe eines Stipendiums der Armee kam er 1946 nach London und besuchte dort die renommierte "Royal Academy of Dramatic Arts". Engagements führten in nach Manchester und Stratford, später ans "Old Vic" und zum "Royal Court". Bereits in seinem ersten Kinofilm, dem großartigen Horrorthriller "House of Darkness" hatte er 1948 den tragenden Part eines Jünglings, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wurde. Sein selten gefordertes komödiantisches Talent konnte sich in dem arg unterschätzten "Cabaret"-Vorläufer "I am a Camera" (1955) voll entfalten. Als liebenswürdig-überdrehtes Alter Ego des Schriftstellers Christopher Isherwood spielte er im Berlin der "roaring twenties" Julie Harris und Shelley Winters glatt an die Wand. Mantel- und Degenstreifen ("Der Talismann") sollten sich fortan mit romantischen Shakespeare-Verfilmungen ("Romeo und Julia") abwechseln. Bemerkenswert aus jener Epoche ist noch die elegische Gangster-Ballade "Vier bleiben auf der Strecke" (1953), deren Originaltitel "The Good Die Young" für Harvey tragischer Weise Realität werden sollte. Nachdem er den "Weg nach oben" in Europa erklommen hatte, holte ihn John Wayne als jüngsten (Leinwand)General der Vereinigten Staaten für die pathostriefende Nachstellung der Schlacht um Fort "Alamo" nach Hollywood. Sein durch eine Gehirnwäsche seelenlos gewordener Killer in "Botschafter der Angst" erntete viel Kritikerlob. Seine enorme Wandlungsfähigkeit unterstrich er in der "Der Menschen Hörigkeit": Als nobler Medizinstudent Philip Carey ist er in seiner wohl schönsten Rolle nicht nur mit einem Klumpfuß, sondern auch mit der leichtlebigen Mildred (Kim Novak) geschlagen, die mit dem heillos der Liebe Verfallenen Katz und Maus spielt. Keine Demütigung und kein Betrug sind ihm zu groß, um für sie zu sorgen und ihr immer wieder - sogar bis über ihren Tod hinaus - zu verzeihen. Der Perfektionist Harvey unterbrach 1963 sogar die Dreharbeiten in Irland, um sich bei einem Paris-Besuch Inspiration vom damals schon im neunten Lebensjahrzehnt stehenden Romancier Somerset Maugham zu holen. Im selben Jahr inszenierte der ambitionierte Gelegenheits-Drehbuchautor seinen ersten eigenen Film: "Frühstück in der Todeszelle" spielt in einem korrupten algerischen Gefängnis, in dessen bedrückender Atmosphäre er sich als besserer Charakter abheben wollte. Als Regisseur sprang der Hauptdarsteller des in Berlin gedrehten "Todestanz eines Killers" nach dem plötzlichen Ableben von Anthony Mann ein. Wie in John Schlesingers "Darling" (1965) mit Julie Christie und Dirk Bograde gab er auch in Robert Siodmaks Monumental-Zweiteiler "Kampf um Rom" (1968/69) einen zwielichtigen Lebemann: Sein Cethegus ist bei aller Egomanie ein Idealist, der den Glanz der "ewigen Stadt" zurückholen will - und scheitert. Die deutsch-rumänische Arthur-Brauner-Produktion brachte ihm die Freundschaft mit Orson Welles ein, für dessen unvollendet gebliebenen Hochsee-Thriller "The Deep"(1970) er vor der Kamera stand. Auch wenn er einen rosafarbenen Rolls Royce fuhr und sein eigenes schickes Restaurant in Hollywood hatte, stieg Laurence Harvey der Ruhm nie zu Kopf. Er blieb ein Star ohne Skandale, der allerdings stets sagte, was ihm mießfiel. Der Hundenarr entspannte sich lieber im Kreis seiner Familie, als Prominenten-Parties zu besuchen. Während seiner letzen 18 Lebensmonate arbeitete der bereits vom Krebs Gezeichnete wie besessen an neuen Filmprojekten. Neben einer Gastrolle als seinen Rivalen meuchelnden Schachweltmeister in der TV-Serie "Columbo" (1973) war er nochmals an der Seite von Elizabeth Taylor in dem Mystery-Thriller "Nacht der 1000 Augenn" (1973) zu sehen. Seit "Telefon Butterfield 8" gehörte die Taylor zu seinen engsten Vertrauten. Sein Leiden nahm sie sich derart zu Herzen, dass sie sich neben ihn aufs Sterbebett mit den Worten "Lass mich mit Dir gehen!" gelegt haben soll. Am 25. November 1973 starb er in seinem Londoner Haus. Postum kam sein Horror-Film"Welcome to Arrow Beach" ins Kino. In Erinnerung bleibt Laurence Harvey, dem Altproduzent Sam Goldwyn einst als neuen Errol Flynn lancieren wollte, neben seiner künstlerischen Integrität und der akzentuierten Sprechweise vor allem wegen seines mitunter wölfischer Charmes. Berühmt ist nicht nur die Reihe der Filme geworden, in denen er mitwirkte,, sondern auch die Anzahl derer, die er wegen "miserabler Drehbücher" ablehnte, darunter "Peeping Tom" (1960), der seinerzeit das vorzeitige Karriereende für Karlheinz Böhm bedeutete. Seinen vermutlich besten Film hat er allerdings nie gedreht, wäre dazu aber sicherlich gerne bereit gewesen. 1961 war Harvey in der engeren Auswahl für die Titelrolle, die schließlich an seinen damals noch unbekannten Kollegen und Freund Peter O'Toole ging. Und so wurde aus "Laurence von Litauen" doch nicht auch noch"Lawrence von Arabien"...

Marc Hairapetian

Neben den inzwischen vergriffenen Biografien "The Prince" von Des Hickey/Gus Smith und "One Tear is Enough" von Pauline Stone ist soeben Anne Sinais Buch "Reach for the Top: The Turbulent Life of Laurence Harvey" (Scarecrow Press., 377 S., 30.95 Pfund, ISBN 0 8108 4562 8) erschienen. Die Autorin war Harveys Schwägerin.